Chatrian verteidigt Filmschaffende

Carlo Chatrian ist der künstlerische Leiter der Berlinale. Soeren Stache/dpa

Der scheidende künstlerische Berlinale-Chef Carlo Chatrian hat nach der umstrittenen Abschlussgala der Filmfestspiele die kritisierten Filmschaffenden in Schutz genommen. Kulturstaatsministerin Claudia Roth sieht weiter Handlungsbedarf.

«Unabhängig von unseren eigenen politischen Ansichten und Überzeugungen sollten wir alle bedenken, dass die Meinungsfreiheit ein entscheidender Teil davon ist, was Demokratie ausmacht», schrieben Chatrian und Berlinale-Programmchef Mark Peranson auf Instagram und dem Portal X.

Trauer um Opfer auf beiden Seiten

Die Preisgala sei auf eine so heftige Weise angegangen worden, dass einige Menschen nun ihr Leben bedroht sähen, so Chatrian und Peranson. Dies sei inakzeptabel. «Wir stehen in Solidarität mit allen Filmemachern, Jurymitgliedern und anderen Festivalgästen, die direkte oder indirekte Drohungen erhalten haben und stehen hinter den Entscheidungen für das Programm der diesjährigen Berlinale.»

Chatrian und Peranson erinnerten sowohl an das Leid der israelischen Geiseln durch die Hamas als auch an die Menschen in Gaza, deren Leben in Gefahr sei. Sie forderten die Freilassung der Geiseln. «Das Trauern um Menschen auf der einen Seite bedeutet nicht, dass wir nicht auch um den Verlust aller anderen trauern. Das Gegenteil zu behaupten, ist einfach unehrlich, beschämend und polarisierend.»

Während der Gala am Samstag war der Nahostkonflikt mehrfach thematisiert worden. Zahlreiche Mitglieder aus Jurys sowie Preisträgerinnen und Preisträger forderten verbal oder mit Ansteckern einen Waffenstillstand im Gaza-Krieg. In Statements war die Rede von «Apartheid» im Zusammenhang mit der Situation in den von Israel besetzten Gebieten und von «Genozid» (Völkermord) mit Blick auf das Vorgehen der Armee in Gaza. Im Anschluss gab es Kritik bis hin zu Vorwürfen von Israelhass und Antisemitismus.

Israelischer Filmemacher erhält Todesdrohungen

Während der Gala sprach der israelische Filmemacher Yuval Abraham von Politik der Apartheid. Er war mit dem Palästinenser Basel Adra in einem israelisch-palästinensischen Kollektiv für den Film «No Other Land» über die Siedlungspolitik in der West-Bank ausgezeichnet worden. Abraham erhält nach eigenen Angaben seitdem Todesdrohungen. Auch seine Familie sei bedroht worden.

Chatrian und Peranson schrieben von der Hoffnung, die Berlinale werde ein «Fenster der freien Welt» und ein Ort bleiben, an dem alle Filme gezeigt werden können. «Ein Ort, zu dem jeder internationale Gast kommen kann, ohne dass seine politischen Ansichten überprüft werden.»

Sie verwiesen auf Äußerungen des Direktors der Bildungsstätte Anne Frank, Meron Mendel: «Es wäre falsch, alle diejenigen, die Israel einseitig und mit zum Teil auch radikalen Positionen kritisieren, als Antisemiten zu bezeichnen», hatte Mendel der dpa gesagt. «Ob es uns gefällt oder nicht, wir müssen lernen, solche Debatten auszuhalten.»

Roth: Antisemitismus im Kulturbetrieb entgegentreten

Kulturstaatsministerin Roth sagte im Magazin «Der Spiegel»: «Wir müssen Antisemitismus im Kulturbetrieb noch viel wirkungsvoller entgegentreten.» Ein möglicher Weg seien Codes of Conduct der Einrichtungen. «Es geht um die Frage, wo die Kunstfreiheit endet, wenn sie die Würde des Menschen verletzt.»

Aus Sicht Roths reichen solche Verhaltensregeln allein nicht aus. Sie müssten mit Weiterbildungen und Sensibilisierungen etabliert und in der Tagespraxis gelebt werden. «Das ist ein Prozess, der leider nicht von heute auf morgen passiert.»

Roth ist selbst in der Kritik. Sie saß während der Gala ebenso im Saal wie Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner und Kultursenator Joe Chialo (beide CDU). Von allen gab es erst deutlich später Kritik an den einseitigen israelkritischen Äußerungen einiger Filmschaffender bei der Gala.

Der Bund ist Träger der Berlinale, Berlin beteiligt sich an der Finanzierung. Nun sagte Roth: «Ich tue mich sehr schwer mit der Vorstellung, dass bei einem internationalen Filmfestival, einer Kulturveranstaltung, bei der die Berlinale die Gastgeberin ist, Vertreterinnen und Vertreter von Bund und Land und damit des Staates intervenieren.»

Die Grünen-Politikerin kündigte erneut eine umfassende Aufarbeitung an. Der Aufsichtsrat der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin, zu denen die Berlinale gehört, soll sich damit befassen. Sie habe eine Sondersitzung einberufen, sagte Roth. Nach dpa-Informationen kommt das Gremium am 11. März zusammen.

«Es ist bitter, dass die missglückte und zum Teil unerträgliche Preisverleihung jetzt die ganze Berlinale überschattet», sagte Roth. Sie bedauerte auch die Form der Auseinandersetzung, es gehe nur noch um Schwarz und Weiß, Freund und Feind. «Die Räume dazwischen gehen verloren, man hört sich nicht mehr gegenseitig zu.» Wirklich gefährlich sei diese aufgeheizte Stimmung vor allem für die Jüdinnen und Juden.

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