Straftat beim Schlafwandeln: Warum Täter freigesprochen werden können

Wenn eine Person schlafwandelnd eine andere Person vergewaltigt, könnte sie wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen werden.

Triggerwarnung: In diesem Text geht es um Straftaten. Unter anderem um sexuellen Missbrauch.

Wenn eine erwachsene Person eine andere nachweislich vergewaltigt (oder anderweitige Straftaten begeht), wird sie in einem Prozess normalerweise verurteilt. Doch es gibt Ausnahmen, die im Strafrecht Anwendung finden können. Gestritten wurde darum etwa kürzlich im Fall eines ehemaligen Staatsanwalts, der seinen Sohn sexuell missbraucht hat.

Dass es zu dem Übergriff kam, stand nie zur Debatte. Seine Frau konfrontierte ihn mit der Tat, dann zeigte er sich selbst an. In der Anklageschrift heißt es: "Er fasste in die Pyjamahose des Jungen, berührte dessen Geschlechtsteil und auch den Anus des Jungen." Doch der Staatsanwalt behauptete, zu diesem Zeitpunkt geschlafwandelt zu haben und sich nicht an den Missbrauch seines Sohnes erinnern zu können.

Ohne Erfolg.

Das Gericht verurteilte den dreifachen Vater wegen Vergewaltigung und schweren Missbrauchs zu einem Jahr und sechs Monaten auf Bewährung. Jedoch: Schlafwandeln während der Begehung einer Tat kann zu einem Freispruch führen.

Wie häufig kommt das vor? Eignet sich Schlafwandeln als Verteidigungsstrategie? Und mit welchen Methoden prüfen Gerichte die Glaubwürdigkeit? Watson ist diesen Fragen auf den Grund gegangen.

Es gibt Menschen, die im Schlaf grauenvolle Dinge tun.

Schlafwandeln macht schuldunfähig, ist aber schwierig zu beweisen

Vor dem Landgericht Lübeck ging es im aktuellen Fall um die Umstände der Tat. Hätte der Schlafwandel-Einwand standgehalten, hätte der ehemalige Staatsanwalt als "nicht schuldfähig" gelten können.

"Schlafende, wozu auch Schlafwandelnde zählen, handeln nicht im strafrechtlichen relevanten Sinn", sagen die Anwält:innen der Kanzlei für Strafrecht Plan A, Ingo Bott und Anisa Rahmani, im Gespräch mit watson. "Beim Schlafwandeln handelt es sich grundsätzlich um einen Schuldausschlussgrund, da die Handlungen eines Menschen in diesem Zustand nicht steuerbar sind."

Allerdings ist die Schuldunfähigkeit durch Schlafwandeln vor Gericht nicht einfach zu beweisen. Was es dazu braucht, erklärt der Rechtsanwalt und Strafverteidiger Stephan Schumann im Gespräch mit watson. Laut ihm gilt grundsätzlich: Die Schuld des oder der Verdächtigen muss nach dem Motto "Im Zweifel für den Angeklagten" festgestellt werden.

Wenn das Gericht aber zu dem Urteil kommt, dass Schlafwandeln eine reine Schutzbehauptung ist, wird der oder die Angeklagte trotzdem verurteilt.Denn: "Nicht jeder Zweifel ist berechtigt", erklärt Schumann.

Schlafwandeln im Strafrecht: Gutachten und Glaubwürdigkeit werden geprüft

Was hierbei eine Rolle spielt: "Sachverständigengutachten zur Prüfung der eventuellen Schuldunfähigkeit." Unabhängig davon, ob beim Schlafwandeln oder aus anderen Gründen auf Schuldunfähigkeit gepocht wird, erfolgt die Überprüfung der Glaubwürdigkeit des oder der Angeklagten. Bei Schuldunfähigkeit durch Alkoholkonsum ist dies meist einfacher zu beweisen, falls beispielsweise ein Alkoholtest durchgeführt wurde.

Wer schlafwandelt, kann sich gewöhnlicherweise nicht daran erinnern.

Beim Schlafwandeln spiele eine Rolle, ob es eine Vorgeschichte gibt. Zentrale Fragen hierbei sind: Wie oft passierte es bereits in der Vergangenheit? Ist das beobachtet worden? Im Falle des Schlafwandelns können hier etwa Partner:innen oder die Familie befragt werden, ob es schon öfter vorgekommen sei.

Auch ärztliche Unterlagen und Behandlungsergebnisse können zur Glaubwürdigkeitsprüfung durch Sachverständige herangezogen werden, wie der Anwalt erklärt. "In der Verteidigung ist es wichtig zu beweisen, dass das Problem nicht erst seit gestern besteht", sagt er. Wenn es keinen vernünftigen Zweifel an der Schuldunfähigkeit gibt, ist die Verteidigungsstrategie hinfällig.

Das bestätigen auch die Anwält:innen der Kanzlei Plan A. Sie erklären, wie außerdem die Glaubwürdigkeit des oder der Angeklagten geprüft wird: Durch "Aussagen des Opfers selbst und die Prüfung, ob manipulative oder überintelligente Tendenzen vorliegen, die für eine Vortäuschung der Parasomnie sprechen könnten".

Wer beim Schlafwandeln eine Tat begeht, kann sich normalerweise nicht daran erinnern.

In der Schweiz hatte ein 19-Jähriger eine 15-Jährige im Jahr 2019 mehrfach vergewaltigt – davon hat er aber nichts mehr gewusst. Obwohl die Tat durch DNA-Tests nachgewiesen werden konnte, wurde er freigesprochen.

Der forensische Psychiater Marc Graf kam zum Schluss, dass es "aus medizinischer Sicht" wahrscheinlicher sei, "dass sich der Beschuldigte im Tatzeitraum nicht bewusst und aktiv über die Interessen des Opfers hinweggesetzt hat". Das Gericht hatte bei Beendigung des Prozesses keine Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Angeklagten.

Auch in Italien gab es einen solchen Fall: Ein Italiener versuchte, seine Frau nachts zu erwürgen. Als er in der Nacht zum 4. Januar 2021 seine Hände um den Hals seiner Frau legte, während sie schlief, habe er geschlafwandelt, urteilte das Gericht. Freispruch.

Prozess gegen ehemaligen Staatsanwalt: Schlafwandeln unglaubwürdig

Im aktuellen Fall des ehemaligen Staatsanwaltes ging die Verteidigungsstrategie nicht auf. Zwar hatte eine ehemalige Lebensgefährtin ausgesagt, er habe beim Schlafwandeln bereits sexuelle Handlungen an ihr durchgeführt. Die Richterin Helga von Lukowicz von Lukowicz nennt die Aussage der Entlastungszeugin in ihrer Urteilsbegründung allerdings unglaubwürdig. Das Landgericht Lübeck geht davon aus, dass es keine derartigen Vorfälle gegeben hat.

Zudem ließen demnach die Aussagen des Sohnes darauf schließen, dass sein Vater während der Tat auf Umweltreize bewusst reagierte. Die Hartnäckigkeit der Anwälte des Opfers führte dazu, dass der Mann sich letztendlich vor Gericht verantworten musste, nachdem die Staatsanwaltschaft Kiel bereits drei Verfahren eingestellt hatte, "wegen Zweifel an der Schuldfähigkeit", basierend auf einem Gutachten, das die Sexsomnia-These als plausibel erachtete.

Landgericht Lübeck überzeugt: Mann hat nicht geschlafwandelt

Erst nachdem das Oberlandesgericht Schleswig einen hinreichenden Tatverdacht im Rahmen eines Klageerzwingungsverfahrens festgestellt hatte, erhob Oberstaatsanwalt Axel Bieler Anklage gegen den Mann.

Meldung

Vielmehr sah das Gericht als Ursache für die Tat sei eine dysfunktionale Bewältigungsstrategie. Der Mann habe sich in einer beruflich wie privat bedrohlichen Situation gesehen. Seine Ehe sei am Ende gewesen. "Der gewaltsame Missbrauch des Sohnes gab ihm für einen Moment das Machtgefühl zurück", heißt es in der Urteilsbegründung.

Damit folgte das Gericht einer These des forensischen Psychiaters und Prozessgutachters Harald Dreßing. Richterin von Lukowicz kritisierte die Staatsanwaltschaft deutlich: "Es gab keinerlei Grundlage für eine dreimalige Einstellung des Verfahrens."

Schlafwandeln kann für Strafprozesse relevant sein.

Alles in allem ist der Prozess um den ehemaligen Staatsanwalt ein Einzelfall. Keiner der von watson befragten Anwälte konnte sich an weitere Fälle erinnern, in denen jemand in Deutschland tatsächlich freigesprochen wurde. Auch die Recherche in den Archiven ergab hierzu nichts.

Klar ist: Schlafwandeln ist keine gängige Verteidigungsstrategie und erst recht keine, die sich Straftäter:innen gemeinsam mit ihrer Verteidigung ohne weiteres konstruieren können.