Dramatische Lage an der Front: Russland nimmt weitere Ortschaften ein

Dramatische Lage an der Front

Dieser Stadt droht die Einkesselung

Anfang April in der Nähe von Donezk: Ein Soldat der ukrainischen "Azow"-Brigade rennt bei einem russischen Angriff um sein Leben. (Quelle: Sofiia Gatilova/Reuters)

Anfang April in der Nähe von Donezk: Ein Soldat der ukrainischen "Azow"-Brigade rennt bei einem russischen Angriff um sein Leben. (Quelle: Sofiia Gatilova/Reuters)

Die Situation an der Front in der Region Donezk wird für die Ukraine immer dramatischer. Eine große Offensive Russlands könnte bevorstehen.

Er hatte Glück. Ein ukrainischer Soldat war im Dorf Berdytschi in der Region Donezk offenbar in russische Gefangenschaft geraten, konnte aber fliehen. Auf einem von Bombenkratern zerfurchten und mit Trümmern übersäten Gelände irrte er umher. Dann sieht er eine Drohne, die von einem Soldaten der 47. Mechanisierten Brigade der ukrainischen Armee navigiert wird. Mithilfe der Drohne läuft der versprengte Soldat im Zickzack über das Gefechtsfeld und erreicht schließlich die eigenen Linien. So zeigen es Bilder in sozialen Netzwerken, die vor einigen Tagen von der ukrainischen Armee veröffentlicht wurden.

Manche seiner Kollegen hatten wohl weniger Glück. Sie ließen bei dem Versuch, die Dörfer Berdytschi und Semeniwka zu verteidigen, ihr Leben oder befinden sich immer noch in Gefangenschaft. Russland konnte die beiden Ortschaften am Wochenende einnehmen, die ukrainische Armee zog sich zurück. Die Truppen des Putin-Regimes konnten damit ihren militärischen Vorstoß an der Front in der Region Donezk in der Ostukraine ausweiten.

Seitdem es der Armee des russischen Diktators in der vorvergangenen Woche gelungen war, die Ortschaft Otscheretyne in der Nähe der russisch besetzten Stadt Awdijiwka einzunehmen und einen Keil tief in ukrainisches Gebiet zu treiben, versuchen die Streitkräfte des Kreml, diesen taktischen Vorteil an der Front auszubauen. Bis zu vier zusätzliche Brigaden sollen Putins Generäle in die Region geschickt haben, so berichtet es die US-Denkfabrik Institute For The Study Of War (ISW) am Montag. Die Ukrainer, denen Munitions- und Personalmangel erheblich zusetzen, stehen immer mehr unter Druck.

Das musste nun auch der ukrainische Armeechef Oleksandr Syrsky einräumen. "Die Situation an der Front hat sich verschlechtert", erklärte er in einer Mitteilung bei Facebook. Die ukrainischen Soldaten hätten sich in einigen Gebieten auf neue Verteidigungslinien weiter westlich "zurückgezogen". Die Militärexperten des ISW prognostizieren, dass sich die ukrainische Armee in den kommenden Wochen noch aus weiteren Ortschaften in der Region zurückziehen könnte, um nicht zu hohe Verluste zu erleiden.

Einnahme eines weiteren Dorfes verkündet

Auch Syrsky deutete eine solche Entwicklung an. Insgesamt seien die ukrainischen Streitkräfte an mehreren Abschnitten der Front in der Defensive, da Russland über "einen bedeutenden Vorteil an Kräften und Mitteln" verfüge. Auch wenn sich der ukrainische General bemühte, nicht alles schlecht aussehen zu lassen. So gebe es zwar "taktische Erfolge in einigen Sektoren" für den Feind, in einigen Gegenden "gelang es unseren Truppen, die taktische Lage zu verbessern".

Generaloberst Olexander Syrskyj (l.) hatte seit seinem Amtsantritt zu Jahresbeginn noch nicht viel Positives zu vermelden. (Quelle: Ukrainisches Präsidentialamt/dpa)

Generaloberst Olexander Syrskyj (l.) hatte seit seinem Amtsantritt zu Jahresbeginn noch nicht viel Positives zu vermelden. (Quelle: Ukrainisches Präsidentialamt/dpa)

Es klingt wie Durchhalteparolen. Und das ist es vermutlich auch, denn wie dramatisch es zum Teil um die Kräfteverhältnisse an der Front bestellt ist, beschreibt das ISW in seinem jüngsten Lagebericht auch: Demnach stehen einem ukrainischen Soldaten mindestens drei russische gegenüber. Das Verhältnis bei der Artilleriemunition liegt in manchen Frontabschnitten sogar bei eins zu neun.

Stadt droht die Einkesselung

Immerhin haben die USA und Großbritannien, aber auch weitere westliche Staaten wie Spanien und Australien neue Hilfspakete angekündigt. Bis diese allerdings eintreffen werden, könnte sich die Lage an der Front für das völkerrechtswidrig angegriffene Land noch weiter verschlechtern. Am Sonntag meldete das russische Verteidigungsministerium dann auch noch die Einnahme des Dorfes Nowobachmutiwka in der Nähe von Awdijiwka. Bislang blieb diese Angabe unbestätigt.

Das Momentum hat sich in den vergangenen Monaten klar zugunsten von Putins Truppen entwickelt und es besteht durchaus die Chance, dass der Kremlherrscher bis zum prestigeträchtigen Datum 9. Mai noch weitere militärische Erfolge feiern kann. Dann jährt sich der Tag des Sieges, wie er in Russland seit 1965 begangen wird, also das Ende des Zweiten Weltkriegs durch die Kapitulation Hitler-Deutschlands zum 79. Mal. Putin liebt solche historischen Daten.

Eine Trophäe, die der Tyrann sich zum Jahrestag offenbar wünscht, könnte die strategisch bedeutende Stadt Tschassiw Jar in der Nähe von Bachmut sein. Dort attackieren die Russen seit Wochen ungewöhnlich heftig. Nun meldete ein ukrainischer Armeesprecher, dass die Angreifer offenbar über zwei Flanken auf die Stadt vorstoßen. Demnach droht den ukrainischen Verteidigern die Einkesselung.

"Sie wollen um jeden Preis das Dorf Iwaniwske und Vororte von Bohdaniwka einnehmen, um in Tschassiw Jar einzudringen. Sie greifen beide Siedlungen intensiv an, um Tschassiw Jar in die Zange zu nehmen", so der Sprecher laut der ukrainischen Nachrichtenagentur Ukrinform.

Selenskyj fordert weitere Luftabwehrsysteme

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj richtet sich fast täglich mit Videobotschaften an seine Landsleute. (Quelle: Uncredited/dpa)

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj richtet sich fast täglich mit Videobotschaften an seine Landsleute. (Quelle: Uncredited/dpa)

Zudem plant Russland offenbar eine Großoffensive. Diese könnte laut ukrainischen Geheimdienstlern Ende Mai oder Anfang Juni starten, wie die "Financial Times" berichtet. Ein Hauptziel der Attacke soll die Millionenstadt Charkiw sein. Angeblich sei Putin bereit, bis zu 40.000 Soldaten an der zweitgrößten Stadt der Ukraine zusammenzuziehen, um diese zu erobern. Das berichtet die "Bild"-Zeitung unter Berufung auf einen ukrainischen Armeelieferanten. "Dann müssen wir uns entscheiden, ob wir den Norden oder den Osten verteidigen wollen. Beides geht nicht", wird der Lieferant zitiert.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bekräftigte seine Forderung an die westlichen Verbündeten, Kiew zusätzliche Luftabwehrsysteme zur Verfügung zu stellen. Die Partner der Ukraine hätten "alle Möglichkeiten, (uns) dabei zu helfen, jede Rakete und jede Drohne" aus Russland abzuschießen, erklärte er am vergangenen Samstag. Sein Land müsse so schnell wie möglich weitere Patriot-Luftabwehrsysteme erhalten.

Auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg drang auf weitere Waffenlieferungen an die Ukraine. "Keine Option ist ohne Risiko, wenn man einen Nachbarn wie Russland hat", sagte der Nato-Chef im "Bericht aus Berlin" der ARD. Die Ukraine habe aber das Recht, sich zu verteidigen – und die westlichen Verbündeten dürften und sollten das attackierte Land dabei unterstützen. Deutschland gehe hierbei "mit gutem Beispiel voran", lobte Stoltenberg.

Verwendete Quellen: