Widerstand in Odessa: "Wenn die Russen die Ukraine haben, werden sie auch nach Berlin gehen"

Dima in seinem Geschäft ©Liv Stroud

Ein verstecktes Juwel in Odessa

Wenn man durch die pastellfarbenen Geschäfte von Odesa geht, könnte man fast vergessen, dass man sich in einem Kriegsgebiet befindet. In den Restaurants und Bars tummeln sich Menschen, die trotzig versuchen, den Krieg zu vergessen. Niemand trägt Schutzwesten. Doch dann biegt man um eine Ecke und plötzlich ist er wieder da, der Krieg. Sandsäcke stapeln sich neben dem Opernhaus. Oder Panzerfäuste, die bedrohlich im Hintergrund lauern.

Viele Einwohner der Stadt erklären einem, dass Odessa die Perle der Ukraine ist und dass Russland sie unbedingt haben will. Es ist eine herrliche Stadt. Ein bisschen wie Paris, aber am Meer. Und wie in Paris gibt es auch in Odessa hübsche kleine Boutiquen, die die Straßen säumen. Aber eine Boutique ist ganz besonders.

Dima sammelt seit rund 30 Jahren Parfüms. Im Untergeschoss seines Ladens gehen jetzt jedoch mehr Soldaten als Kunden ein und aus. In diesem außergewöhnlichen Laden kann man nicht nur ein limitiertes Chanel-Parfüm aus den 60er Jahren kaufen, sondern man trifft auch freiwillige Helfer der Armee, die hier ihre Vorräte auffüllen und Hilfsgüter für den Osten des Landes abholen.

Odessa 2022Liv Stroud

Es ist ein seltsames Bild, das sich einem in diesem Laden bietet: Soldaten, die sich mit kugelsicheren Westen und Helmen ausstatten, und dazwischen Mädchen um die 20, die die Regale durchstöbern und sich Parfümproben auf die Handgelenke sprühen, beide auf der Suche nach etwas, das sie in diesen schrecklichen Zeiten beruhigt.

Aber Dima verkauft nicht nur Parfüm und versorgt Freiwillige mit militärischer Ausrüstung, er baut auch Skulpturen aus zerbrochenen Parfümflaschen und den Überresten von Bomben und Granatsplittern, die seine Mitmenschen töten. 2022 tötete eine Bombe über Ostern in Mykolajiw mehrere Zivilisten, Dima nutzt einen Teil der Bombe für eine Skulptur. Eines seiner Parfums steht bei keinem geringeren als dem ehemaligen britischen Premierminister Boris Johnsons in London.

Mein Parfum ist in Boris Johnsons Haus.

"Es gab tatsächlich Fragmente von der Rakete, kleine Stücke. Und ich habe sie in die Komposition eingearbeitet, die, wie sich herausstellte, Boris Johnson erreichte. Mein Parfüm steht also in Boris Johnsons Haus, das ist cool", sagt Dima in einem Zoom-Interview. Er wölbt seine spitzen Augenbrauen und hält kurz inne.

"Sowohl das Parfüm als auch der Duft, der dafür verwendet wurde, sind in ihrer Natur ziemlich unangenehm. Es ist ein lederartiger, holziger Duft, nicht geeignet für den täglichen Gebrauch", fügt er hinzu.

Dima macht Skulpturen aus den Scherben von Parfümflaschen und Schrapnell.Liv Stroud, Odessa 2022

Als ich Dima in den ersten Monaten der großangelegten russischen Invasion zum ersten Mal traf, herrschte weltweit ein Mangel an kugelsicheren Westen. Kollegen von mir, die für mehrere der größten Nachrichtenagenturen weltweit arbeiteten, versuchten verzweifelt an kugelsichere Westen zu kommen, damit sie aus der Ukraine berichten konnten. Ein Freund von mir kaufte eine der letzten kugelsicheren Westen in Madrid und flog nach Polen, um sie an der Grenze abzuliefern, so knapp war das Angebot in Europa. Die Geschäfte für Militärbedarf in ganz Europa, einschließlich Berlin, Prag und Warschau, waren schon lange vorher ausverkauft. Es war unmöglich, eine kugelsichere Weste auch nur in die Nähe der Ukraine zu bekommen.

Kugelsichere Westen im Parfümladen

"Wir haben diese Westen zunächst ohne kugelsichere Platten hergestellt. Dann haben wir die Platten selbst hergestellt, und wir haben sie aus Feldarbeitsgeräten produziert, weil es keine Schutzwesten mehr gab. Die Nachfrage war sehr groß", sagt Dima, obwohl er die Platten nicht mehr herstellt, seit die EU die Lieferungen in die Ukraine verstärkt hat. Er erzählt uns auch, dass die Schutzwesten drei Menschenleben gerettet haben.

"Die Leute haben mir Fotos von ihren kugelsicheren Westen geschickt, die Treffer abbekommen haben, ohne dass jemand getötet wurde."

Obwohl Dima selbst nicht an der Front ist, finanziert er die Produktion von Tragen, Decken, Taschen, Drohnen und Munition. Die Tragen, sagt Dima, können bis zu 250 kg tragen, absolut notwendig für den Einsatz an der Front.

"Es ist unwahrscheinlich, dass die ukrainische Armee mich nimmt, weil ich Probleme mit den Beinen habe, aber ich kann einige Aufgaben übernehmen, zum Beispiel in der Nachhut oder in der zweiten Verteidigungslinie. Vielleicht könnte ich mich Drohnen um kümmern, ich weiß es nicht", sagt Dima, als wir ihn fragen, was er tun würde, wenn er zum Kampf gerufen würde.

Viele der Freiwilligen, die durch die Glastüren der Parfümerie in Odessa gehen, haben seit dem Ausbruch des Krieges den Job gewechselt. So auch der Sohn von Dima, der heute Stoffe für Schutzwesten näht.

"Er war anfangs weit entfernt von jeglicher Art von Produktion, insbesondere von Munition, geschweige denn vom Nähen. Er arbeitete als Tischler, speziell in der Werkstatt, die Skulpturen herstellte, und das war seine Hauptbeschäftigung."

Kugelsichere Westen und ParfümflaschenLiv Stroud, Odessa 2022

Helfer an der Front

Dimas Laden hilft auch bei der Evakuierung von Zivilisten aus Städten wie Charkiw und unterstützt andere Freiwillige bei der Lieferung von Hilfsgütern in die ländliche Umgebung von Odessa. Einige der dort lebenden Menschen sind in Bezug auf lebenswichtige Güter wie Windeln und Lebensmittelkonserven vollständig auf Telegram-Gruppen angewiesen, die die Freiwilligengruppen zur Koordinierung der Lieferungen nutzen. Diese Orte sind von Schützengräben und militärischen Kontrollpunkten umgeben. Es gibt keine öffentlichen Verkehrsmittel und so sind sie komplett von der Welt abgeschnitten.

Ich war 2022 bei mehreren dieser Missionen dabei. Jedes Mal sind wir zwei Stunden lang mit begrenztem Treibstoffvorrat aus der Stadt hinaus gefahren, während die Sonne auf Sonnenblumenfelder schien und der Himmel so blau war, wie in einem Bilderbuch - wahrscheinlich dienten diese Landschaften als Inspiration für die ukrainische Flagge. Viele der Menschen, die in diesen abgelegenen Dörfern leben, sind Binnenflüchtlinge, die gen Westen geflohen waren, um sich in Sicherheit zu bringen. Viele sind alleinerziehende Mütter mit mehreren Kindern, und sowohl ihre Männer als auch ihre Autos sind im Einsatz an den Fronten im Osten des Landes. Ohne Autos ist es für sie unmöglich einen Supermarkt zu erreichen. Die Freiwilligen, die unermüdlich die Hilfsgüter ausliefern, tun dies neben ihren anderen Aufgaben. Dima stattet diese Freiwilligen aus eigener Tasche mit kugelsicheren Westen und Helmen für den Fall eines russischen Angriffs aus. Eine Gruppe von Freiwilligen hat bereits einen Fahrer und einen Bus durch den Angriff eines Kampfjets verloren.

Freiwillige aus OdessaLiv Stroud, 2022

Wie ist die Stimmung unter den Freiwilligen, die unermüdlich die Grenzen im Osten des Landes verteidigen und diese Hilfslieferungen durchführen? Sie ist gemischt, sagt Dima, "denn wenn wir aufhören, verlieren wir nicht nur das Wort 'Ukraine' oder unsere Heimat, sondern müssen vor allem als Freiwillige irgendwohin fliehen, weil wir dann die ersten sein werden, denen Folter, Misshandlung und Tod drohen".

Dima sagt, dass sich die Dinge seit dem Beginn des Krieges geändert haben: "In den ersten Tagen waren die Menschen ganz davon eingenommen, sie wurden zwar nicht verrückt, aber der Krieg hat die Motivation und den Zusammenhalt der Ukrainer um 100 Prozent gesteigert.

Er brachte die Menschen zusammen, und jeder half in diesen ersten Monaten mit. Er erzählt, dass in jedem Viertel von Odessa Menschen auf der Straße waren, die Molotow-Cocktails bauten, um ihre Stadt gegen die Eindringlinge zu verteidigen.

Der Krieg ist das Schlimmste, was passieren kann, wie eine tödliche Krankheit.

"Aber diese ersten Stunden, diese ersten Momente waren natürlich furchterregend, denn das Gefühl, dass der Krieg gekommen ist, war da. Das ist das, was ich in meinem Leben am meisten gefürchtet habe. Der Krieg ist das Schlimmste, was passieren kann, wie eine tödliche Krankheit. Und im Gegensatz zu anderen Herausforderungen im Leben kann der Krieg nicht mit Geld oder Freunden überwunden werden", fügt er melancholisch hinzu. Dimas Augen schließen sich, als er beginnt, über die ersten Momente des Krieges zu sprechen. Seine Augen öffnen sich, wenn er in die Gegenwart zurückkehrt, als würde er zurück in die Realität kommen.

Dima beschreibt den ersten Raketeneinschlag in Odessa als "etwas Schreckliches, das bis heute in meinem Herzen lebt. Es nimmt jetzt einen Teil meines Lebens ein. Es ist wie die erste Liebe, die man nicht vergessen kann. Und das ist ungefähr dasselbe, nur dass es kein positives Gefühl ist, sondern ein extrem negatives. Das Grauen hat überlebt. Nein, es ist gewachsen. Ein Teil meines Herzens."

Kein Kontakt mehr zu den Angehörigen in Russland

Die Raketenangriffe waren und sind immer noch für die Menschen in Odessa traumatisch, körperlich und seelisch. Dimas Familie ist dadurch völlig zerrissen worden. Er spricht nicht mehr mit seinen in Russland lebenden Verwandten.

"Viele von uns haben seit dem 20. Februar (2022) nicht mehr miteinander gesprochen. Ich habe versucht, ihnen zu sagen, wie schrecklich es ist, und sie zum Protest aufgefordert. Sie sagen: 'Warum sollten wir protestieren? Wir haben alles, was wir brauchen, alles ist in Ordnung', und sie geben uns die Schuld daran, dass [die russische Armee] zu uns gekommen ist."

Warum sollten wir protestieren? Wir haben alles, was wir brauchen, alles ist in Ordnung.

Es ist erschreckend, so etwas zu hören.

Odessa 2022Liv Stroud

"Wir haben eine Woche nach der Invasion aufgehört zu kommunizieren", fügt er hinzu. "Unsere Beziehung ist, gelinde ausgedrückt, angespannt. Zumindest zu meiner Cousine, denn sie macht keinen Unterschied zwischen den Worten 'Nazi' und 'Patriot'. Dabei ist der Unterschied zwischen einem Patrioten und einem Nazi ist sehr groß. Ein Patriot liebt sein Heimatland, während ein Nazi jemand ist, der glaubt, dass seine Nation wesentlich besser als andere ist, viel besser als alle anderen.

Dima macht die Propaganda im russischen Fernsehen dafür verantwortlich.

"Für sie sind wir Affen mit einer Handgranate. Wir sind alles andere als Menschen. Das ist alles. Daher der Hass und die vielen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, bei denen Menschen nicht nur einfach umgebracht werden, sondern es normal geworden ist, uns mit tausend Raketen zu bombardieren."

In den vergangenen drei Jahren hat er sich oft gefragt, warum Zivilisten Ziel der von Russland als "besondere Militäroperation" bezeichneten Maßnahmen sind.

Ein schwieriges Verhältnis zur russischen Sprache

"Das Vorgehen Russlands hat dazu geführt, dass wir jetzt alle nur noch auf Ukrainisch sprechen wollen, und das tun wir auch. Ich kommuniziere zum Beispiel mit Leuten auf Facebook ausschließlich auf Ukrainisch." Er sagt, er habe wegen der Invasion nach der Annexion der Krim 2014 begonnen, Ukrainisch zu lernen.

Dimas Beziehung zu Russland ist kompliziert. Er wurde in Odessa geboren, aber wie der ukrainische Präsident Selenskyj ist er russischer Muttersprachler. Er sagt, dass viele der Soldaten an der Front Russisch sprechen.

Dima glaubt, dass Putin versucht, die Ukraine an die Russische Föderation anzugliedern.

"Soweit ich weiß, bedeutet die 'russische Welt' die Nichtanerkennung der Nationalität, einschließlich der nationalen Sprachen, Kulturen usw. Sie werden in erster Linie zugunsten der russischen Kultur nivelliert. Es gibt zahlreiche nationale Konflikte in Russland selbst, aber sie werden unter Kontrolle gehalten, indem die Behörden die Meinungsäußerung darüber verhindern."

Dima erwähnt Tatarstan, "wo Einzelpersonen, die sich für ihre Muttersprache, ihre Kultur und die Erhaltung der Umwelt einsetzen, mit rechtlichen Konsequenzen rechnen müssen." Er spricht von Fail Alsynov, dem ehemaligen Anführer einer verbotenen Bashqort-Gruppe, die sich für die baschkirische Sprache und Kultur einsetzte. Alsynov wurde zu vier Jahren Gefängnis verurteilt und behauptet, die Anklage sei politisch motiviert.

Dima sieht Paralellen mit der ukrainischen Kultur.

Jeder, der versucht, unseren Staat zu übernehmen, ist schlicht und einfach ein Feind.

"Für uns ist jeder, der versucht, unseren Staat zu übernehmen, ist schlicht und einfach ein Feind. Ich möchte keine Lektionen von Leuten erhalten, die mir einmal nahe standen und jetzt als Feinde betrachtet werden. Diejenigen, die gegen mich zu den Waffen greifen, selbst im übertragenen Sinne, einschließlich der Verwandten, die in großer Zahl geblieben sind, sind Feinde", sagt er.

Die Oper von Odessa, 2022Liv Stroud

Keine Sehnsucht nach Russland

Dima sagt, er verstehe den Wunsch, zu Russland anzugehören, nicht.

"Es ist mir unklar, warum sich jemand nach der russischen Welt sehnt. Die Leute können sich zumindest ansehen, was mit Donezk und Luhansk unter Russland passiert ist." Von Freiwilligen, die aus dem Osten zurückkehren, hat er gehört, dass ein Großteil der männlichen Bevölkerung in Donezk dezimiert ist, weil sie entweder tot sind oder in den Krieg geschickt wurden.

"Das ist eine Art archaisches Denken, das wahrscheinlich mit dem Phantomschmerz über den Verlust der Sowjetunion zusammenhängt. Es gab die Sowjetunion, und angeblich lebten dort alle glücklich, friedlich und zufrieden, aber wenn man sich in die Geschichte vertieft und verschiedene Quellen heranzieht, war es für viele, auch für meine Eltern, alles andere als wolkenlos und alles andere als erfreulich." Dima erinnert sich an seinen Vater, der 12 Bauernhöfe bewirtschaftete. Sehr viel Arbeit, doch kein anständiges Einkommen. Dima erzählt, dass er den Kauf von Turnschuhen feierte, weil das für die Familie etwas Ungewöhnliches war. Er hatte nur ein einziges Paar.

In Russland findet man kein Glück, nur Leid

Dima sagt, dass es in den russischen Gebieten "überhaupt keine Entwicklung gibt. Alles ist mit Sanktionen belegt. Die Menschen, die sich um die russische Welt bemühen, wissen im Grunde, dass auch Russland unter Sanktionen steht. Im Grunde genommen streben sie nach einem Land, das auch unter Sanktionen steht. Nun, ich weiß nicht, wie man das vergleichen kann. Es ist unwahrscheinlich, dass jetzt jemand versucht, nach Nordkorea zu gelangen. So ungefähr ist das." Er zeichnet ein düsteres Bild.

"Der Punkt ist, dass eine Person, die erwartet, dass ein Umzug nach Russland ihr Glück bringt, sich gründlich irrt, denn es ist egal, wo man lebt. Wenn Sie in der Ukraine unglücklich sind, werden Sie auch in Russland, Europa oder anderswo unglücklich sein. Es spielt keine Rolle. Irgendwie denken die Menschen, dass sich jemand für ihr persönliches Schicksal interessiert und dass insbesondere Russland ihnen helfen wird. In tausend Geschichten haben Menschen, die in der russischen Welt leben, buchstäblich darauf gewartet, es bekommen und am Ende aber darunter gelitten", beklagt er.

Verdeckte Schilder aus Angst, dass die Russen jederzeit kommen könnten.Liv Stroud, Odessa 2022

Der Albtraum der Luftangriffe

Er weiß nicht, was die Lösung ist. "Hier droht einem im Grunde der Tod, der kommt, wenn man sich ergibt, oder man muss irgendwo hinlaufen, wo man nicht weiß, ob man willkommen ist oder nicht. Und viele scheinen einfach genug von uns Ukrainern zu haben."

Für viele Ukrainer gibt es keine andere Wahl. Entweder sie bleiben und warten darauf, dass Bomben ihre Häuser zerstören, abgeworfen von einem Land, dem sie sich wie Geschwister zugehörig fühlten, oder sie fliehen in ein anderes Land, wo sie eine neue Sprache lernen und oft ihr Studium von Grund auf neu beginnen müssen, weil manche Regierungen ukrainische Abschlüsse nicht anerkennen.

"Wenn in deinem Pass steht, dass Du Ukrainer bist, werden die Russen Dich einfach vernichten, nur weil Du Ukrainer ist. Das ist Faschismus", sagt er.

Wir fragen ihn, wovor er sich am meisten fürchtet, und er beschreibt, wie er mitten in der Nacht aufwacht und von den Geräuschen der Bombenangriffe auf Wohnviertel wachgerüttelt wird.

"Das Stadtzentrum von Odessa ist definitiv kein militärisches Ziel. Wie können sie [Bomben] hier abwerfen, in ein Stadtzentrum, das von der UNESCO geschützt ist?"

Reste einer Bombe, die Dima für seine Kunstwerke nutzt.Liv Stroud

Die Tageszeiten werden oft durch das Heulen der Luftschutzsirenen unterbrochen. Wenn Sie es nicht selbst erlebt haben, es hört sich genauso an wie in Filmen oder in Ausstellungen über den Zweiten Weltkrieg. Man bekommt eine Gänsehaut, aber das Unheimlichste daran ist nicht das Heulen, sondern die Tatsache, dass viele Menschen gar nicht mehr darauf reagieren. In Odessa haben sie sich so sehr daran gewöhnt, dass sie sich nicht mehr in Sicherheit bringen. Manchmal hört man in der Nacht zwischen den Sirenen Knallgeräusche und kleine Explosionen. Man hofft, dass es sich um das Geräusch der Luftabwehr handelt, die die Stadt und ihre Bewohner schützt.

"Diese Raketen treffen unsere Energieinfrastruktur oder auch andere kritische Ziele. Es mögen zwar militärische Objekte sein, aber es sind auch Menschen dort. Okay, es ist Krieg; grob gesagt, soll es so sein. Es sollte ein Ziel geben, zum Beispiel ein militärisches Objekt zu zerstören - das ist sozusagen die Norm. Aber wenn die Energieinfrastruktur zerstört wird, wenn die Stadt ohne Wasser, ohne Wärme, ohne irgendetwas dasteht..."

Sie wollen die Stadt vernichten, so dass sie vom Anlitz der Welt verschwindet.

Wenn es zu massiven Stromausfällen kommt, kommen viele Menschen den Parfüm-Laden, denn Dima hat Generatoren installiert. Die Bewohner der Stadt stehen dicht gedrängt, ihre Gesichter werden von Smartphones erhellt, die an Steckdosen aufgeladen werden.

"Die Leute sind einfach gekommen, um eine Verbindung zur Welt zu haben. Dima hat auch einen Starlink auf eigene Kosten installiert.

Russland wird sich mit der Ukraine nicht zufrieden geben

Wir fragen Dima, was er tun wird, wenn der Krieg zu Ende ist, aber wie viele, die in der Ukraine leben oder enge Verbindungen zu dem Land haben, fällt ihm die Antwort schwer und er sieht verletzlich aus, als würde er gleich weinen.

"Es ist, als würde man fragen: 'Gibt es Leben auf dem Mars?' Im Moment hört es sich ungefähr so an. Ich werde weinen, das verspreche ich", sagt er und macht einen Scherz, vielleicht um die Tränen zu unterdrücken.

Dima sagt, er glaube, dass Russland sich nicht mit der Ukraine zufrieden geben wird: "Was ist ein Sieg? An der Grenze aufhören? Ist es das linke Ufer der Ukraine? Oder weiter nach Polen oder weiter nach Deutschland zu gehen? Warum nicht? Wenn sie durch die Ukraine gehen, glauben Sie, dass sie dann nicht nach Europa gehen werden? Doch, sie werden auf jeden Fall gehen. Sie werden sagen: 'Wir waren in Berlin, warum nicht noch einmal dorthin fahren'", sagt er.

Er verweist auf die russischen Nachrichtensender, die oft unverblümte nukleare Drohungen ausstrahlen, auch gegenüber Europa. Dima sagt, das Thema werde mindestens alle zwei Wochen diskutiert.

Helfen und Schönheit - Mittel gegen die Schrecken des Krieges

Dennoch Dima blickt hoffnungsvoll in die Zukunft. Ein Problem der Ukraine ist die Korruption, und dennoch meinte Dima, dass der Beitritt zur EU nicht die einzige Lösung ist. "Wir sollten uns nicht nur auf spätere Hilfe aus Europa verlassen, denn wir sind intelligent und fähig genug, um unser Land selbst wieder aufzubauen", sagt er, aber er glaubt, dass die Ukraine in mancher Hinsicht reformiert werden muss.

"Viele sind bereit, ehrlich zu arbeiten und zu leben, glauben Sie mir. Viele Menschen, zumindest diejenigen, mit denen ich derzeit rede, sagen, dass wir dazu bereit sind. Gebt uns einfach transparente Gesetze, sorgt dafür, dass es funktioniert, und lebt nicht nur deklarativ in einem Rechtsstaat. Aber manchmal gibt es solche Möglichkeiten. Ich gehe sogar ein Risiko ein, wenn ich jetzt darüber spreche, weil morgen schon etwas passieren könnte."

(Selenskyj) hat die Menschen nicht im Stich gelassen. Er hat alles getan, um sein Volk zu schützen

Zur ukrainischen Regierung sagt er, er respektiere Präsident Selenskyj als Führungspersönlichkeit: "Er hat nicht die Möglichkeit genutzt, das Land zu verlassen und sich irgendwo an einem sicheren Ort zu verstecken; er ist direkt in Kiew geblieben. Er ist an dem Ort geblieben, an dem er seine Aufgaben direkt wahrnimmt, und er hat die Menschen nicht im Stich gelassen. Er hat alles getan, um sein Volk zu schützen." Ich bin mir sicher, dass dieser Gedanke den meisten Menschen nach der Invasion durch den Kopf gegangen ist, denn man sich fragt, ob der eigene Präsident im Falle einer Invasion gegen eine weltweite Supermacht bestehen würde.

Dima lobt auch die Arbeit der Armee, an die, wie er sagt, viele nicht geglaubt haben, die sich aber in den letzten zwei Jahren bewährt hat. Er ist auch stolz auf sich selbst, denn er sagt, dass er 28 Menschen gerettet und im Laufe des Krieges 3 Millionen Dollar ausgegeben hat [Euronews konnte dies nicht unabhängig überprüfen]. Ich habe gesehen, wie er in der Zeit, die ich im Laden verbrachte, Westen, Helme und Hilfsgüter an Freiwillige spendete.

In seiner Freizeit ist Dima ein begeisterter Fotograf, der die Schönheit von Odessa festhält. Von beeindruckenden roten Sonnenuntergängen über Mikrofotografie der umliegenden Natur bis hin zu kreativen Aufnahmen des Meeres und Porträts von Menschen. Für ihn ist das ein Ventil, eine Möglichkeit, sich selbst und die der Menschen um ihn herum aufzuheitern.

Fotogalerie 6 Bilder

"Wir helfen mit Medikamenten und allen Arten von Evakuierungsmitteln. Es ist alles traurig, es wird alles schwer. Die Leute sagen, dass die Fotos für sie eine kleine Pause von dieser Realität sind", sagt er.

Jeden Tag, jede Stunde, wenn sich die Gelegenheit bietet, tun wir etwas, das die Menschen zum Lächeln bringt, etwas, das ihnen zumindest das Gefühl gibt, nicht im Krieg zu sein.

"Jeden Tag, jede Stunde, wenn sich die Gelegenheit bietet, tun wir etwas, das die Menschen zum Lächeln bringt, etwas, das ihnen zumindest das Gefühl gibt, nicht im Krieg zu sein", fügt er melancholisch hinzu. Selbst das Fotografieren ist für Dima eine weitere Möglichkeit, sich um andere zu kümmern.

Von den Fotos bis zu den Skulpturen, die er aus zerbrochenen Parfümflaschen und übrig gebliebenen Bomben und Granatsplittern zusammensetzt, geht es Dima darum, etwas Schönes zu schaffen, selbst vor dem Hintergrund des Schreckens der Invasion seines geliebten Landes. Ein wahrer Künstler.

Er erzählt eine Anekdote, an die ich noch heute denke: "In den ersten Tagen des Krieges, als die Russen nach Melitopol kamen, kam eine Frau heraus und sprach einen Soldaten an. Dort stand ein gepanzerter Mannschaftstransportwagen. Sie ging auf den Soldaten zu und sagte: "Stecken Sie ein paar Sonnenblumenkerne in Ihre Tasche. Wenn du stirbst, werden Sonnenblumen sprießen und wir werden Öl aus dir gewinnen.'"

Danach trugen viele Ukrainer T-Shirts mit Sonnenblumen.

© Euronews