Bis zur Selbstaufgabe – warum das Helfersyndrom toxisch ist

Immer nur um andere kümmern – das kann nicht gutgehen auf Dauer, glaubt unser Autor Mike Kleiß.

Kolumnist Mike Kleiß hatte einst selbst das Helfer:innen-Gen, und es hat lange gedauert, bis er es in den Griff bekommen hat. Dafür brauchte es allerdings eine Therapie. Er fühlte sich plötzlich ziemlich leer, während alle um ihn rum seine Energie getankt hatten.

Um es gleich zu sagen: Es war ein ziemlich langes Gespräch mit Till, dem jungen Arzt, der sich wie Jesus fühlte, und der einfach nicht mehr übers Wasser gehen konnte. Weil ihm schlicht die Energie ausgegangen war. Auch er wurde, so wie viele andere, nach dem Motto erzogen: Sei für andere da, immer. Vor allen Dingen für deine Familie, bedingungslos, zu jeder Zeit. Ordne dich und deine Bedürfnisse unter, nimm dich selbst nicht zu wichtig, das gehört sich nämlich nicht. Till wurde von klein auf beigebracht, bescheiden zu leben. Nicht nur materiell!

Selbst als erwachsener Mann klebte ein Leitsatz in seinem Kopf fest: Bescheidenheit lernt man, indem man erst zuletzt an sich denkt. Ein ganz fataler Spruch, der nicht nur massive Schäden hinterlässt, der krank macht, der sogar nicht nur ihn, sondern sein ganzes Umfeld ein Stück weit beschädigte. Der Lebenssatz führt gerade in seinem Leben dazu, dass Till niemandem mehr gerecht werden kann, weil einfach alles too much ist. Vor allen Dingen aber wirkt er selbst krank. Wenn ich ihn ansehe, wirkt es so, als ob ein seelischer Virus ihn von innen auffrisst.

Helfersyndrom: Und dann steht alles auf dem Spiel

Tills Frau Maja wollte nie Hausfrau sein. Sie hasste schon immer diese Rolle, und führte über Jahre hinweg ihr eigenes Business. Ganz plötzlich fand sie sich genau dort, hinter dem Herd, vor der Waschmaschine, über dem Putzeimer. Maja kochte quasi immer, wenn ich mit ihr telefonierte. Vor Wut! Ihr war klar, dass Tills Einkommen die Familie ernährte, ihr Business nicht ganz so gut lief, sie aber das Geld brauchten. Und so schlitterte sie immer mehr in die "Muddi-Rolle".

Wer immer anderen hilft, aber nie an sich denkt, steht wahrscheinlich irgendwann alleine da.

Eines Tages verlangte sie von Till, dass er – nachdem er von seinem 13-Stunden-Job wieder zu Hause war – den Haushalt schmeißen sollte. Nicht nur, dass sie schon lange kein Paar mehr waren, das noch länger keinen Sex mehr hatte, das Leben war eines, das nur noch stattfand, aber keines mehr war. Till rastete aus, Maja auch. Till war gewohnt, nur noch der Helfer zu sein, Maja hatte sich an Tills Rolle gewöhnt, und packte jetzt noch den Haushalt obendrauf.

Nie hätte sie gedacht, dass ihr Mann das nicht auch noch schaffen könnte. Till schlug verbal um sich, der einstige Jesus wurde zum Geysir, der einfach nur noch spuckte. Und genau an diesem Punkt drohte eine komplette Familie auseinander zu fliegen. Noch ist nicht klar, ob Maja und Till es schaffen können. Und das nur, weil Till zur Bescheidenheit erzogen wurde, er einfach nichts für seine mentale Gesundheit tat. Nichts. Im Gegenteil, er war leer. Einfach nur leer.

Mental-Health-Erkenntnis: Ich war selbst mal ein Till

Ich fragte mich in den letzten Tagen, warum mich Majas und Tills Geschichte eigentlich so berührte. Und warum ich selbst beinahe alles getan hätte, um den beiden zu helfen. Die Antwort war quasi um die Ecke. Vor zehn Jahren stellte ich fest, dass ich bis zu diesem Zeitpunkt selbst ein Till, und auch immer mit Majas zusammen war.

Bis eben zu dem Tag, als ich mich bei meinem Coach auf die Couch setzte, um eben eines Tages kein Till mehr zu sein.

Denn irgendwie spürte ich, dass dieses Helfersyndrom ganz schön toxisch war. Für mich wurden die Gründe damals ziemlich schnell ziemlich klar. Ich wollte geliebt, gemocht und geschätzt werden. Es ging mir um Anerkennung und Wertschätzung. Und ich tat für Jahrzehnte wirklich alles dafür, geliebt und geschätzt zu werden.

"Brannte irgendwo der Baum, war ich die Feuerwehr. Am Ende dieser Zeit stellte ich mit Entsetzen fest: Ich stand ziemlich allein da."

Wenn eine meiner Majas ihr Leben nicht auf die Reihe bekam, fixte ich es. Hatte ein Freund Liebeskummer, begleitete ich ihn komplett durch die gesamte Leidenszeit, auch wenn diese Monate dauerte. Brauchte meine Großmutter Unterstützung, fuhr ich täglich zweihundert Kilometer, um für sie einzukaufen, obwohl wir eine recht große Familie sind, und uns das locker hätten aufteilen können. Ich wollte es jedoch nicht anders. Brannte irgendwo der Baum, war ich die Feuerwehr. Am Ende dieser Zeit stellte ich mit Entsetzen fest: Ich stand ziemlich allein da.

Ich suggerierte immer und immer der Starke zu sein, niemand kam auf die Idee, für mich da sein zu müssen, schließlich war ich für alle da, und hatte nach außen Kraft und Energie für alle. Der Aufprall war ziemlich hart. Ich endete mit massigem Übergewicht, weil ich nicht einmal mehr zum Sport kam. Allein, übergewichtig, ausgelaugt. Weder für den Körper noch für die Seele so richtig gut.

Helfer-Gen: Selbstaufgabe macht unsexy

All das führte in der Summe dazu, dass ich klar und deutlich spürte: Du musst einfach alles auf null stellen. Alles. Mein Treiber, dass ich durch eine Art Selbstaufgabe mehr Wertschätzung und Liebe bekommen würde, war ein toxischer Trugschluss. Und so geht es quasi jedem Till, egal ob männlich oder weiblich. Verantwortung zu tragen, hat nichts mit Selbstaufgabe zu tun. Im Gegenteil.

Wer immer nur für andere da ist, steht am Ende für nichts mehr. Wer für nichts steht, ist nicht interessant. Tills, wie ich einer war, denken, dass es auch irgendwie sexy macht, wenn man besonders empathisch ist, wenn man dem anderen jeden Wunsch von den Lippen abliest. Die Realität ist jedoch, dass die Helfer:innen nach jeder Party allein ins Bett gehen. Und wenn sie dann doch eine:n Partner:in ergattern können, ist die Beziehung selten auf Augenhöhe, und das ist unsexy ohne Ende.

Helfer:innen stehen am Ende leider oft allein da.

Heute bin ich mir recht klar: Ein Mensch, der sich selbst für einen anderen aufgibt, ist langfristig wenig reizvoll. Nichts ist daher anziehender, als Partner:innen, die sich ihrer selbst bewusst sind, über ein ausgeglichenes Selbstwertgefühl verfügen und ihre eigenen Interessen, Aktivitäten und Ziele wertschätzen! Liebe bedeutet, sich auf Augenhöhe zu begegnen. Sich der Liebe gemeinsam hinzugeben, aber sich selbst zu erhalten.

Sei kein Till, sei keine Maja, sei du!

Ich habe inzwischen viele Helfer:innen kennengelernt, und mein Helfersyndrom abgelegt. Das Laufen hat mir dabei sehr geholfen. Kilometer für Kilometer kam ich mir selbst näher und näher. Das Laufen war meine Therapie, meine Meditation. Sehr sicher werde ich immer ein Mensch bleiben, der für seine Lieben da ist, aber in homöopathischen Dosen.

Wichtig fand ich auf meinem Weg aus dem Till-Leben, die Angst abzulegen, nicht gemocht zu werden, mir sicher zu sein, dass ich total okay bin, so wie ich bin. Ich entlarvte mehr und mehr meine Selbstwert-Defizite, ich habe die Entscheidung getroffen, die Kraft entwickelt, ganz ich selbst zu sein. So wurde ich mehr und mehr der Regisseur, und nicht das gefährdete Opfer.

Wichtig dabei fand ich persönlich, selbst meinen Selbstwert zu nähren, aus der inneren Balance heraus, nicht durch den Jubel von außen. Die Wissenschaft sagt: Das Selbstwertgefühl ist eng mit dem körperlichen und psychischen Wohlbefinden verbunden. Eine Person mit einem guten Selbstwertgefühl misst sich selbst mehr Wert bei und bringt sich mehr Achtung entgegen. Und diese Achtung ist der Nährboden für eine gute mentale Gesundheit. Also, habt Achtung vor Euch selbst! Ihr seid völlig okay und gut so, wie Ihr seid.