Familienland oder mütterfeindlich? Warum Italienerinnen keine Kinder mehr wollen

Italienische Mütter sind mit reihenweise Erwartungen in ihrer Rolle konfrontiert.

Wer als Kind in Italien aufgewachsen ist, der kann sich bestimmt an die langen Schulferien im Sommer erinnern. Fast drei Monate dürfen Schüler:innen in dem Land dann auf die Schulbank verzichten: Was in Deutschland unvorstellbar ist, bedeutet für italienische Kinder und Jugendliche Sommermonate voller Freiheit, Spaß und Erholung von dem Schulstress.

Doch der lange Traumsommer bringt auch Schattenseiten mit sich. Denn die Kinder wollen betreut werden. Das Problem: Angebote fehlen oder sie sind extrem teuer.

Das ist nur einer der Gründe, warum Italien als eines der Länder mit der niedrigsten Geburtenrate weltweit gilt. Wieder verzeichnete das Land im Jahr 2023 laut Istat mit 379.000 einen Negativrekord an Geburten. Der elfte historische Tiefpunkt in Folge seit 2013. Italien ist zudem mit Abstand das Land mit der ältesten Bevölkerung in Europa.

Die Gesellschaft in Italien wird zunehmend älter.

Die Sommerferien allein sind wohl nicht der Grund für dieses demografische Problem. Watson ist dem Geburtenrückgang zum Tag der Familie auf den Grund gegangen. Dabei wird klar, dass das vermeintlich familienfreundliche Land vor allem eines ist: mütterfeindlich.

Italien: Mütter und Frauen können Erwartungen kaum gerecht werden

Papst Franziskus hat die italienische Bevölkerung wegen der niedrigen Geburtenrate dazu aufgerufen, mehr Kinder zu bekommen. Doch ob diese Aufforderung ausreicht? Wohl kaum.

Was schiefläuft, beschreiben unter anderem die "mamme di merda", zu Deutsch "Scheißmütter". So nennen sich die Bloggerinnen Sarah Malnerich und Francesca Fiore. Sie sprechen etwa auf Instagram über das Muttersein, die italienische Kultur und Geschlechterstereotype, geben Vorträge.

Auf Social Media stellt Malnerich klar: "Italien ist kein kinderfreundliches Land". Zwar seien alle immer sehr nett zu Kindern, doch die Politik des Landes macht es Familien schwer. Es gibt kaum Kinder- und Elterngeld, Betreuungsplätze sind schwierig zu bekommen oder extrem teuer. Teilzeit-Arbeitsplätze gebe es ebenfalls kaum.

Und die Männer? Die fühlen sich oft nicht verpflichtet, was teils auch an den rechtlichen Rahmenbedingungen, wohl aber auch an der Mentalität liegt. Je weiter im Süden Italiens man sich befindet, desto größer ist das Problem.

Die wohl größte Bürde der italienischen Frauen aber seien die enormen gesellschaftlichen Erwartungen. Demnach seien alle Mütter in dem Land "Scheißfrauen". Denn von ihnen wird erwartet, sich komplett für die Familie aufzuopfern.

Italien: Was der Staat nicht schafft, muss die Familie ausbügeln

Die italienische Soziologin Chiara Saraceno ist emeritierte Professorin der Universität Turin, ihre Arbeitsschwerpunkte sind Familie und Armut. Sie spricht gegenüber watson von einer "Überlastung der Familie durch eine anhaltende geschlechtsspezifische Arbeitsteilung".

Die Familie sei in Italien nach wie vor eine "starke Institution, von der man Solidarität erwartet, sowohl in wirtschaftlicher Hinsicht als auch bei der Umverteilung von Betreuungsaufgaben". Wo der Staat also zu wenig Unterstützung für die Betreuung und finanzielle Sicherheit der Familie beisteuert, wird wie selbstverständlich erwartet, dass sich die Familie schon irgendwie arrangiert.

Heißt konkret: Noch immer ist es vor allem die Frau, die dafür zuständig ist, die Kinder großzuziehen. Und in Ferienzeiten sind die Großeltern gefragt. Wer darauf nicht zurückgreifen kann, hat mit existenziellen Problemen zu kämpfen.

Das sehen auch die Bloggerinnen so. Malnerich stellt etwa klar: Um Kinder zu bekommen, müsse eine Frau in Italien quasi ihren Beruf aufgeben. Und wer danach wieder einsteigen will in die Arbeitswelt, sei dazu gezwungen, die Arbeitszeit drastisch zu reduzieren.

"Denn wenn es keine Kinderbetreuungseinrichtungen oder nur private und teure Lösungen gibt, braucht man Großeltern, die pensioniert und gesund sind. Die Großeltern sind die wahre italienische Wohlfahrt", sagt sie gegenüber dem "Spiegel". Zudem habe "Italien ein völlig unzureichendes Sozialsystem".

Ein Sozialsystem, das mehr auf die Solidarität der Familienmitglieder und Bekannten der Kinder als auf staatliche Hilfe gestützt ist.

Frauen in Italien wollen Kinder, die Unterstützung aber fehlt

Das zeigt sich rechtlich gesehen in vielerlei Hinsicht. So ist es zum Beispiel in vielen Regionen des Landes verboten, ein Kind bis zur sechsten Klasse allein zur Schule gehen zu lassen. Eine Person – meist die Mutter – muss also immer da sein. Überhaupt werden Kinder in Italien wohlbehütet. Sie werden generell viel eher in den Mittelpunkt gestellt als in Deutschland.

Wer sich in Italien für Kinder entscheidet, muss auf ein soziales Netz im Bekanntenkreis hoffen.

Das zeigt sich auch in der Ernährung. Die kulinarische Affinität der Italiener:innen ist nicht nur eine Fähigkeit, sondern besonders in Bezug auf Kinder vielmehr eine Pflicht. Schnell ein Brötchen als Abendessen? Nein, es muss meist schon mindestens ein vollwertiges Gericht samt selbstgemachtem Dessert sein.

Was in Deutschland als Helikoptermutter negativ abgestempelt wird, ist im südlichen Italien gerade gut genug. Wer sein Kind nicht verwöhnt, ist ein schlechter Elternteil.

Gleichzeitig haben Familien es schwer, den Ansprüchen zu genügen. Mütter haben fünf Monate Mutterschutz, während der Vater zehn Tage bezahlt freinehmen kann. Besonders im Süden ist die geteilte Elternschaft unüblich. Die Bloggerin Malnerich hat dazu eine klare Meinung: "Das ist lächerlich, wir fordern eine Verlängerung. Das derzeitige System nimmt den Vätern das Recht, diesen wichtigen Moment im Leben zu genießen." Die "Scheißmütter" setzen sich also auch für Väter ein.

Dass sich Frauen zwischen dem Muttersein und dem Berufsleben in Italien häufig entscheiden müssen, zeigt sich auch in der Erwerbstätigenstatistik. Laut "Süddeutsche Zeitung" beträgt die Quote der berufstätigen Frauen in Italien etwa 52 Prozent, was den niedrigsten Rang innerhalb der EU bedeutet.

Im Gegensatz dazu liegt sie in Deutschland bei ungefähr 73 Prozent. Ein markanter Unterschied zeigt sich zwischen Nord- und Süditalien, wobei in Südtirol ganz im Norden deutlich mehr Frauen arbeiten als in den südlicheren Regionen wie Sizilien, Kampanien oder Basilikata.

Doch die Zeiten haben sich gewandelt.

Frauen wollen arbeiten. Und italienische Familien wollen sehr wohl mehr Kinder, sehen sich aber häufig nicht dazu in der Lage. Familie und Beruf zu vereinen, sei schwierig, "wenn die Arbeitsteilung in der Familie starr bleibt, die Dienstleistungen unzureichend sind, die Arbeit prekär ist und die Arbeitgeber die Mutterschaft als Handicap betrachten", sagt die Soziologin. Die Abhängigkeit von der Ursprungsfamilie sei zu hoch.

Ein gesellschaftlicher Wandel ist gefordert, nicht nur in Italien

Die Expertin sieht in dem Problem aber auch die Chance, die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern aufzuräumen. Die Politik sei nun gefordert, "die Gleichstellung der Geschlechter in der Familie und in der Gesellschaft zu stärken". Etwa durch Kulturarbeit, "aber auch und vor allem durch Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Mütter und Väter".

Dabei spricht sie passende Beurlaubung sowie die Erschaffung von qualitativ hochwertiger und zugänglicher Kinderbetreuungseinrichtungen an. Auch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen seien dringend gefordert. Zudem müsse eine Wohnungspolitik her, die die Wohnautonomie junger Menschen und ihre Entscheidung, eine Familie zu gründen und Kinder zu bekommen, fördere.

"Es ist ein kultureller und politischer Wandel erforderlich", sagt Saraceno. Denn: Im Endeffekt sind nicht nur die Kinder, sondern auch ihre Familien die Zukunft und fundamental, um der Alterung der Gesellschaft entgegenzuwirken.

Schon jetzt führt die alte Gesellschaft in Italien zu Ungleichgewichten im Rentenhaushalt, Druck auf das Gesundheitssystem und die Verringerung von Humankapital. Ein Trend, der in vielen europäischen Ländern zu beobachten ist.