Jüdische Studentin: "Ich möchte, dass es den Palästinensern gut geht"

Jael Keck fühlt sich als jüdische Studentin an ihrer Universität nicht mehr sicher.

In einem Aufzug im Berliner Stadtteil Wedding prangt der Schriftzug "From the river to the sea" in grellen Farben an der Wand. Wenn Jael in ihre WG im vierten Stock fährt, sieht sie jedes Mal den inzwischen verbotenen Satz, der Israel seine Existenzberechtigung abspricht.

In ihrem Zimmer angekommen, ziert ein Chanukkia, ein neunarmiger Leuchter aus dem Judentum, den ansonsten eher unordentlichen Raum der 23-jährigen Studentin an der Freien Universität Berlin (FU).

Die jüdische Studentin Jael Keck.

Als Kind einer jüdischen Mutter wuchs sie in Bonn mit Hebräisch-Unterricht und Besuchen in der Synagoge auf. Ihre Großeltern flüchteten als Kinder mit ihren Eltern aus dem Irak nach Israel.

Ihre Tanten und Onkel hat Jael das letzte Mal vor fünf Jahren gesehen. "Meine Cousinen und Cousins sind teilweise in der Armee. Ich habe die Sorge, dass Menschen, die ich kenne, sterben werden", erzählt sie im Gespräch mit watson. Der Nahost-Konflikt war immer wieder Thema in Jaels Familie, nur verstanden hatte sie es nie wirklich. "Inzwischen kann ich mit meiner Familie gut über das Ganze reden", sagt sie.

Jael selbst ist nicht religiös. Dennoch hat sie oft das Gefühl, außerhalb der jüdischen Gemeinschaft, nicht verstanden zu werden. "Die meisten Leute interessieren nur die politischen Aspekte – also, dass Jüdinnen und Juden Opfer des Holocausts waren oder Täter:innen im Rahmen des Nahost-Konflikts sind – aber nicht, was das Judentum eigentlich ausmacht."

Mit 14 Jahren nahm Jael an einem Schüleraustausch in Israel teil. Dort wurde ihr zum ersten Mal richtig erklärt, was der Nahost-Konflikt bedeutet. Dort begriff sie schnell, "dass Israel gerade mehr Macht und mehr Privilegien hat und es den Palästiner:innen, insbesondere in Gaza, sehr schlecht geht".

Aber die Anschläge in den vergangenen Jahrzehnten, die die Auslöschung Israels als Ziel hatten, kann sie dabei nicht vergessen.

Der Nahostkonflikt und seine tiefen Wurzeln – eine Chronologie

Als am 7. Oktober vergangenen Jahres die Hamas Israel angriff, befand sich Jael gerade in ihrem Erasmus-Aufenthalt auf Gran Canaria. "Ich habe das Ausmaß nicht richtig realisiert, weil es immer wieder Vorfälle im Nahen Osten gibt", erzählt sie.

Zum Hintergrund: Am 7. Oktober 2023 überfiel die Terrororganisation Hamas Israel und ermordete etwa 1200 Israelis, darunter auch Frauen und Kinder. Hunderte Menschen wurden nach Gaza verschleppt. Als Reaktion darauf begann Israel eine Militäroperation im Gazastreifen.

Erst als die Proteste anhielten, hat sie langsam begriffen, dass es dieses Mal anders ist. Gerade auf Social Media fanden antisemitische Beiträge auch in der Mitte der Gesellschaft viel Verbreitung. "Ich war allein mit diesem Ballast und um mich herum wurde weiterhin gefeiert."

"Ich fühle mich nicht mehr sicher hier. Ich fühle mich in meinem Freund:innen-Kreis nicht mehr sicher."

Dann bekamen die Pro-Palästina-Demos immer mehr Zulauf. Jael macht es Angst, wie viel Hamas-Propaganda auf den Demos unreflektiert wiedergegeben wird und dass der Antisemitismus so viel Anschluss findet.

Parolen wie "from the river to the sea" werden laut gebrüllt, nicht mehr nur in Aufzüge gesprüht, Kufiyas werden getragen und vermehrt werden Jüdinnen und Juden auf offener Straße angegriffen.Jael fragt sich, ob man noch von friedlichen Demos reden kann, wenn Gewalt verherrlicht und dazu aufgerufen wird.

"Es ist schwierig, sich zu informieren", erklärt sie. Israelis werden als klare Täter:innen des Nahost-Konflikts deklariert. "Aber so einfach ist das nicht." Besonders junge Menschen zeigen ihren Protest gegen Israels Militäroperation an Universitäten – dabei kommt es auch zu Übergriffen auf jüdische Studierende.

Gaza-Proteste: Antisemitismus auf dem Campus

Anfang Februar wurde der jüdische FU-Student Lahav Shapira mit Nasen- und Wangenknochenbrüchen ins Krankenhaus eingeliefert. Im Dezember hatte er an einer Gegenaktion zu einer pro-palästinensischen Hörsaalbesetzung an der FU teilgenommen. Ein Teilnehmer der Gegenseite erkannte ihn wieder. Die Staatsanwaltschaft geht von einem antisemitischen Motiv aus.

Vergangenen Dienstag wurde ein pro-palästinesisches Camp an der FU unter Polizeigewalt aufgelöst. Die FU gab bekannt, die Polizei aufgrund antisemitischer Äußerung der Besetzer:innen gerufen zu haben.

Studierende errichteten auf dem Theaterhof der FU ein pro-palästinensisches Camp.

Auch Freund:innen von Jael protestierten bereits auf propalästinensischen Demos. "Ich fühle mich nicht mehr sicher hier. Ich fühle mich in meinem Freund:innen-Kreis nicht mehr sicher." Immer wieder versucht Jael ihre Freund:innen aufzuklären. "Es wird mir zugehört, aber das Verhalten ändert sich in der Regel nicht."

Sie kann und will den Antisemitismus nicht akzeptieren. Deswegen hat sie schon mehrere Freundschaften beenden müssen.

Von deutschen Universitäten wünscht die Studentin sich gerade nach der Auflösung des pro-palästinesischen Camps von der FU mehr Aufklärungsarbeit.

Dass das Camp aufgelöst wurde, findet sie per se richtig, vermisst dabei allerdings den Dialog zwischen Universität und Studierenden. "Ich bin sehr schnell, sehr emotional und fassungslos geworden, dass das überhaupt passieren kann." Seit dem Vorfall an der FU fühlt sie sich auf dem Campus nicht mehr sicher.

Der Nahost-Konflikt spielt an Universitäten eine große Rolle

Seither hat Jael sich viele Gedanken gemacht. Auch darüber, warum die Situation rund um den Nahost-Konflikt vermehrt an Universitäten diskutiert wird. "Universitäten sind oft sehr links geprägt. Dazu kommt, dass Studierende Menschen sind, die die Zeit und das Privileg haben, sich viel mit Politik auseinanderzusetzen."

Auch Social Media spielt hierbei laut Jael eine große Rolle. Durch die vom Algorithmus vorgeschlagenen Beiträge informieren sich User:innen schnell in eine einseitige Richtung.

Auf einer Pro-Israel Demo auf dem Kölner Roncalliplatz.

Bei den Demonstrationen hat Jael jedoch das Gefühl, dass es meist weniger um die politischen Aspekte geht. Die Forderungen der einzelnen Demos seien generell oft sehr schwammig formuliert. "Die Demos werden als Katalysator für Unzufriedenheit mit der Gesellschaft genutzt", sagt sie. Jael glaubt, dass es deshalb auch vermehrt zu gewaltvollen Angriffen kommt.

Sie sagt:

"Ich möchte, dass es den Palästiner:innen gut geht. Ich möchte, dass sie nicht in einem Terrorregime leben. Ich möchte, dass der Antisemitismus im Nahen Osten aufhört. Ich möchte, dass Israel keine rechtsextreme Regierung hat. Aber das ist alles idealistisches Denken."

Die Studentin hat lange gebraucht, um zu verstehen, dass der Antisemitismus nicht aufhört, wenn das Leid weg ist. Sie denkt, dass der Glaube, dass es keinen Antisemitismus mehr gäbe, sobald es den Palästinenser:innen gut gehe, inzwischen sehr verbreitet ist.

Transparenzhinweis: Die Autorin ist mit Jael Keck befreundet.