"Oft reicht eine Stunde": Wie Sofortberater in psychischen Krisen erste Hilfe leisten

Die Sofortberater:innen helfen auch telefonisch.

In unserer Serie "Jobs mit Zukunft" werfen wir einen Blick auf Berufe, die besonders spannend sind. Weil sie neu, zukunftssicher oder einfach anders sind. Oder weil sie die Welt auf irgendeine Weise besser machen.

Erste Hilfe heißt in der Medizin, im akuten Notfall einzugreifen, wenn Menschen mit Infarkten oder Verletzungen zusammenbrechen. Doch gibt es solche "Rettungskräfte" auch für psychische Krisen? Durchaus. Michael Krooss ist einer von ihnen.

Der Hamburger ist Sofortberater oder auch Mental Health Coach im Fürstenberg Institut. Er leitet ein Team, das Mitarbeitenden und Führungskräften anonym und kostenlos hilft, psychische Krisen zu meistern, sofern ihre Arbeitgeber:innen die Dienstleistung des Instituts gebucht haben. Auch bei traumatischen Erlebnissen auf der Arbeit (z.B. bei einem Banküberfall) können die Berater:innen gerufen werden.

Mit welchen Themen sich Menschen bei ihm melden und wie man überhaupt in so einen Beruf kommt, erklärt Michael Krooss im Gespräch mit watson.

Michael Krooss ist Mental Health Coach.

watson: Wie muss ich mir deinen Beruf vorstellen?

Michael Krooss: Ich bin Leiter unserer Abteilung Sofortberatung. Das bedeutet, dass mein Team – das unter anderem aus Psycholog:innen und Sozialpädagog:innen besteht – und ich telefonisch, per Video und Chat Menschen zu den unterschiedlichsten Lebensthemen beraten. Mit dem Ziel, dass sich die betroffenen Personen – wenn die Themen besprochen sind – wieder gut fühlen und in der Folge dann ohne mentale Belastung motiviert arbeiten können. Uns bezahlen Unternehmen und die haben Interesse daran, dass ihre Angestellten mit einem freien Kopf ihre Arbeit machen können.

Haben die Probleme mit der Arbeit zu tun?

Manchmal gibt es einen direkten Arbeitsplatz-Bezug: "Ich war lange krank und habe Angst, wieder zurückzukehren", wäre ein Beispiel. Bis hin zu eher privaten Themen, wie: "Ich komme mit meiner Scheidung nicht klar." All das kann Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit haben.

"Für Unternehmen ist es sinnvoller, ihren Angestellten schnell durch eine Krise zu helfen, als dass der oder die Betroffene krank ausfällt."

Buchen euch nur Firmen, bei denen Mitarbeitende besonders emotional stabil sein müssen?

Wir betreuen alle möglichen Branchen. Das Bewusstsein dafür, wie wichtig die psychische Gesundheit der Angestellten ist, ist in den letzten Jahren auf Unternehmensseite stark gestiegen. Zugleich gibt es zu wenig psychotherapeutische Plätze in Deutschland. Wir bekommen daher so viele Anfragen wie noch nie, das ist definitiv ein wachsender Markt. Denn: Für Unternehmen ist es sinnvoller, ihren Angestellten schnell durch eine Krise zu helfen, als dass der oder die Betroffene krank ausfällt oder gar kündigt.

Wie kann ich mir so ein Gespräch vorstellen?

Mich hat zum Beispiel mal eine Führungskraft angerufen, die sagte, sie müsse in zwanzig Minuten eine Frau entlassen, fühle sich mit der Entscheidung aber nicht wohl. Dann haben wir in etwa einer Viertelstunde durchgesprochen, warum dieses Gefühl da ist. Der Termin wurde ausgesetzt, stattdessen mit der Vorgesetzten darüber gesprochen, dass nicht die Mitarbeiterin das Problem ist, sondern es an der Struktur liegt. Das war die bessere Lösung. Diese kurzen Interventionen, die konkret helfen, sind mit am spannendsten.

Muss man routiniert sein, um so schnell eingreifen zu können?

Lebenserfahrung hilft, aber es gibt auch Techniken. In meinem Team sind wir zehn Leute mit den unterschiedlichsten akademischen Hintergründen und einer zwei- bis dreijährigen systemischen Beratungs-Ausbildung. Dort lernt man, eine Entscheidungsproblematik aufzulösen, also: Wie hilft man jemandem, eine gute Entscheidung zu treffen?

Was wäre eine gute Entscheidung?

Eine möglichst erwachsene Entscheidung. Eine Entscheidung, die nicht von negativen Glaubenssätzen oder Ängsten der Kindheit beeinflusst ist, sondern die der Situation im Hier und Jetzt angemessen ist. Das Gefühl sagt meist: "Mach es so, wie immer, sicher ist sicher". Wir fragen: Was würde passieren, wenn du es entgegen dem ersten Impuls versuchst? Wäre das Ergebnis sogar besser?

Eine schnelle Lösung zu finden, klingt stressig.

Manchmal ist es das. Wir bearbeiten auch schwerwiegende Themen wie Suizidalität oder sogenannte "belastende Ereignisse". Zum Beispiel, wenn ein Kollege von einer großen Maschine überrollt wurde und alle mussten es mitansehen. Dann fahren wir in die Unternehmen, um mit den betroffenen Menschen vor Ort zu sprechen, damit das Geschehene möglichst nicht zu einem Trauma auswächst.

Ist es ein gutes Gefühl, in Krisen helfen zu können?

Absolut. Manchmal ruft jemand an und äußert, dass er oder sie nicht mehr leben möchte. Dann begleiten wir die Person am Telefon auch mal bis in die psychiatrische Notaufnahme und warten, bis sie in guten Händen angekommen sind. Dafür sind die Menschen dankbar und das fühlt sich gut an, ja.

Wie viel Zeit verbringt ihr mit jemandem im Coaching?

In der Regel eine Stunde. In der Sofortberatung arbeiten wir ohne Termine, sind immer zwischen acht Uhr morgens und 20 Uhr erreichbar. Oft reicht eine Stunde, weil es erstmal darum geht, die Gedanken zu sortieren oder einen hilfreichen Impuls zu bekommen. Gibt es weiteren Gesprächsbedarf, übergeben wir intern an unsere Expert:innen aus dem Mental Health Coaching, dort kann man dann auch Folgetermine vereinbaren. Wir sind sozusagen die Erste Hilfe, wenn's brennt.

"In dieser einen Stunde geht es nicht darum, das Problem zu lösen, sondern es das erste Mal anzupacken."

Das kommt Menschen entgegen, die Hemmung vor Therapien haben, weil sie denken: "Dann öffne ich so ein Lebensthema, da bin ich noch Jahre mit befasst"?

Ja, in der Therapie muss ich damit rechnen, dass existenzielle Themen berührt werden. Und ich kann eigentlich mit der Therapie nicht aufhören, bevor diese Wunde wieder verarztet ist. Das dauert eben. Mit der systemischen Beratung sind wir auf einer anderen Ebene unterwegs. Wir versuchen, das Problem sehr praktisch anzugehen. Manchmal führt das eine natürlich zum anderen. Wenn jemand feststellt, dass er immer wieder am selben Punkt ins Straucheln kommt, ist die Frage berechtigt: Ist das ein Lebensthema bei dir?

Ist eine Stunde genug, um zu helfen?

In dieser einen Stunde geht es nicht darum, das Problem zu lösen, sondern es das erste Mal anzupacken. Wenn jemand anruft und sagt: "Ich glaube, ich habe ein Suchtproblem", dann ist es schon gut, dass er das überhaupt – vielleicht zum ersten Mal – laut ausspricht. Dann kann man weitermachen und an Beratungsstellen oder Kliniken aus unserem Netzwerk übergeben. Es geht um diesen ersten Impuls.

Als ob jemand einen Schalter umlegt.

Wir haben mal jemanden beraten, der war süchtig nach Kokain. Er hatte das jahrelang vor seiner Familie verheimlicht und 100.000 Euro Schulden. Während sein Umfeld dachte, alles wäre in Ordnung, zog sich die Schlinge um seinen Hals zu. Er rief uns an und sagte: "Mein Leben ist dahin. Ich weiß nicht weiter." Solche Probleme sind natürlich viel größer, als dass wir sie lösen können. Aber wir können gucken: Womit kann er jetzt konkret starten?

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Nimmt man solche Dramen mit nach Hause?

Wir nehmen nicht eine Krise nach der anderen an. Wir sind zehn Leute im Team, dadurch verteilt sich die Belastung. Wenn ein Problem jemandem sehr nahe geht, tauschen wir uns aus und alle sechs Wochen gibt es eine externe Supervision in der Gruppe. Meist ist das aber nicht nötig, denn die Wirksamkeit der Beratung hilft. Wir geben Lösungsoptionen und wenn man auflegt, weiß man: Ich habe alles getan.

Der Rest liegt nicht in eurer Hand?

Da ist die Beratungs-Ausbildung gut, weil man da lernt: Ich kann Menschen zwar helfen, in sich hineinzuhorchen und eine Veränderung zu planen, aber wenn der andere entscheidet, das Besprochene nicht zu tun, sondern die Katastrophe weiterlaufen lässt – zum Beispiel weiter Kokain nimmt –, ist das seine freie Entscheidung. Das belastet mich nicht, nein.