Selbstzweifel: Wer bin ich eigentlich? Und warum habe ich mich verloren?

Einfach keine Energie mehr: Mit diesem Gefühl ist man oft auf dem besten Weg, sich selbst zu verlieren.

Vollgas im Studium, Vollgas im Job, irgendwann vielleicht Familie. Allen muss man gerecht werden, und langsam aber sicher verschwindet man selbst. Unser Kolumnist kennt das. Eines Tages stellte er sich die Frage: Bin das wirklich ich, den ich da im Spiegel sehe? Bin das noch ich?

Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, es war ein Morgen im Winter vor einem Jahr. Der Spiegel war mein Gegner, ich konnte kaum hineinsehen. Was ich dort sah, gefiel mir nicht, und das lag nicht einmal daran, dass es noch früh war, dass ich seit zwei Jahren viel zu wenig Schlaf hatte. Ich schaute in eine Art Leere, quasi durch den Spiegel hindurch. Ich erkannte kein Leben mehr, vor allen Dingen nicht das Leben, das ich so lange und so gerne geführt hatte.

In mir machte sich ein wenig Traurigkeit breit. Wo war der Mike geblieben, den ich so gut kannte? Den ich irgendwie auch mochte, der für vieles stand. Er war kaum noch erkennbar. Er war sicher noch da, aber sehr weit hinten, irgendwo hinter der Papa-Fassade, da moderte er vor sich hin.

Zur Traurigkeit gesellte sich Sehnsucht. Die Sehnsucht nach dem alten Leben, nach dem alten Mike, der sicher seine neue Rolle sehr genoss, sie sogar liebte, aber die Sehnsucht war – um ganz, ganz ehrlich zu sein – mindestens ebenso groß.

Sich selbst nicht mehr spüren: Viele kennen das.

Selbstzweifel: Warum hat mich davor niemand gewarnt?

Okay, Deep Talk: Ich bin sauer, dass ich mich ein Stück weit verloren habe. Dass ich nicht weiß, und zwar bis heute nicht, wofür ich eigentlich stehe, seit ich Vater geworden bin. Mehr und mehr kämpfe ich mich zurück ins alte Leben, um nicht komplett zu resignieren. Ich laufe wieder mehr, tue massiv mehr für meine mentale Gesundheit, arbeite wieder so, wie ich es mag. Aber hey, warum hat mir eigentlich niemand gesagt, dass all das so kommen würde? Dass man sich selbst kaum noch spürt? Dass man diese große Vermissung nach dem Normal hat?

Natürlich haben enge Freunde, mein Vater, große Teile der Familie gewarnt, dass sich "einfach alles ändert, wenn ein Kind da ist". Darüber kann man echt viele schlaue Bücher lesen. Ich wage aber mal zu behaupten, dass die meisten nur an der Oberfläche kratzen. Mir war total klar, dass sich das Leben ändert. Dass man sich selbst verändert, wenn sich die Situation und die Umstände drehen.

Aber, dass man gefühlt das Leben, das man vor dem Kind führte, an den Nagel hängen kann, dass man gefühlt sichtlich verfettet, weil man keine Zeit für den Sport hat, dass man beinahe verarmt, weil man den Job nicht mehr hat oder machen kann, den man hatte, das sagt einem keiner.

"Ja, ich bin sauer, dass ich noch immer vieles nicht tun kann, wie es einmal war. Und nein, das hat nichts damit zu tun, dass ich meine Tochter nicht über alles liebe."

Gut, mag ein bisschen übertrieben sein, aber: Ich fühlte mich an diesem Morgen so, und in Teilen ist das bis heute der Fall. Es kostet mich wahnsinnig viel Energie, mein altes Ich wiederzubeleben. Ja, ich bin sauer darüber, dass ich noch immer vieles nicht tun kann, so wie es einmal war. Und nein, das hat nichts damit zu tun, dass ich meine Tochter nicht über alles liebe. Ich mag das Gefühl einfach nicht, dass ich mich verloren habe. Dass ich mich erstmal fragen muss: Wer bin ich denn überhaupt (noch)?

Was hilft wirklich, wenn man lost ist?

Da ist natürlich die Frage: Warum hasse ich das Gefühl überhaupt so sehr, lost zu sein!? Nicht mehr zu wissen, wer ich bin. Weil ich das Gefühl so gut kenne. Deshalb.

Sehr selten, aber dennoch war ich schon in einer ähnlichen Situation. Okay, jeder ist irgendwann mal dran. Wir alle werden eines Tages am Scheideweg stehen, schauen uns um, und es ist keiner da. Nur wir können und müssen entscheiden, welchen Weg wir nun gehen. Und unheimlich ist, dass man den Weg hin zum Scheideweg gar nicht registriert. Man steht da, plötzlich, und fragt sich: Wie bin ich denn hier gelandet? Wer bin ich überhaupt? Und: Ich spüre mich ja gar nicht mehr. Manchen fällt selbst das gar nicht mehr auf und sie landen in einer Art Burnout.

Um ehrlich zu sein: Es mag absurd klingen, aber oft ist es ein absoluter Luxus, Zeit zu haben, sich selbst zu spüren. Immer wieder zu hinterfragen: Wo bin ich? Wie bin ich? Bin ich das noch? Um dann eventuell entsprechend zu handeln oder reagieren zu können.

Dabei ist genau dieses Innehalten so wichtig. Es wird auf die lange Bank geschoben. Schließlich wartet der nächste Termin im Job, ein Problem in der Familie muss gelöst werden, die beste Freundin hat sich getrennt, irgendwas ist ja immer.Und immer nehmen wir uns Zeit für alles Mögliche, nur nicht für unsere Seele. Egal welchen Experten man fragt, sie alle sagen: Wer sich selbst verliert, der verliert auf allen Ebenen. Wer nicht bei sich ist, fällt negativ auf. Wer nicht weiß, wofür sie oder er steht, wird unglücklich werden.

Wir brauchen einen Horizont

Persönlich hatte ich drei dieser Momente, die mich ins Leere geführt haben. Die erste Begegnung mit dem Gefühl des Lost-Seins hatte ich, als ich derart viel arbeitete, dass ich nur noch zum Schlafen mein Zuhause sah. Damals war meine Partnerin der Spiegel im Bad. Sie ging. Sie hielt es einfach nicht mehr mit dem Arbeitssüchtigen aus. Plötzlich stand ich mehr oder weniger alleine da. Eben an diesem Scheideweg.

Wie man sich selbst wiederfindet: Horizonte finden.

Der zweite Downer war, als ich feststellte, dass mein Gewicht deutlich zu hoch war. Über einige Jahre hatte ich mir einen Panzer angefressen, der fürchterlich ungesund war. Auf der Kellertreppe saß ich, bekam meine Schuhe nicht mehr zu, weil mein Bauch dazwischen war. Und so lief ich los. Über Jahre hinweg rannte ich jeden Tag 15 bis 18 Kilometer, bis ich mich selbst wieder gefunden hatte. Und, na ja, dann kam meine Tochter. Und auch jetzt laufe ich wieder sehr viel. Allerdings gibt es inzwischen einen extremen Unterschied.

Ich habe mir Horizonte in mein Leben eingebaut. Die Idee entstand eines Tages, als meine Tochter neben mir aufwachte. Sie setzte sich auf, schaute aus dem Fenster, und überraschte mich mit einem neuen Wort, das sie gelernt hatte: "Himmel, Himmel", sagte sie immer wieder. Ganz begeistert war sie, dass auch an diesem Tag wieder ein neuer Himmel zu sehen war.

Seither baue ich bewusst einen neuen Himmel, einen neuen Horizont in mein Leben ein. Ich setze mich nach dem Aufwachen hin, schaue in den Himmel, und frage mich regelmäßig: Na, wo stehst du? Bist du noch du selbst? Kannst du mit gutem Gewissen sagen, dass du auf deinem Weg bist? Spürst du dich?

Es mag kitschig klingen, aber dabei setze ich mir einen virtuellen Horizont. Nach dem Motto: Du arbeitest jetzt noch bis so und so viel Uhr, und dann machst du etwas für dich. Am Anfang ging es nicht, ohne dass ich mir den Horizont sogar in den Kalender eingetragen haben. Nicht in meinen, sondern in den Familien-Kalender.

Meldung

Selbstzweifel loswerden: Eine Verabredung mit mir selbst ausmachen

Während andere den nächsten Termin annehmen oder sich am Abend mit Freunden treffen, gibt es inzwischen das Date mit mir selbst. Und es hat lange gedauert, bis ich die Disziplin aufbrachte, dieses Date durchzuziehen. Aber ich glaube fest daran, dass nichts verführerischer ist, als ein gestärktes Ich. Gerade wenn man dazu neigt, Angst zu haben, etwas zu verpassen, deshalb nicht nein sagen kann, ist das einzige Weg, sich selbst nicht zu verlieren.

Das alles hat übrigens sehr viel mit Energie zu tun. Alles braucht Energie. Und irgendwann ist sie weg. Was bringt uns aber ein schicker Tesla, wenn wir nicht darauf achten, die Batterie rechtzeitig aufzuladen?

Vor einigen Tagen bin ich das erste Mal in meinem Leben auf er Autobahn liegengeblieben. Der Sprit war leer. Ich sah mich im roten Bereich fahren, war mir sicher es reicht noch bis zur nächsten Tankstelle. Es reichte nicht. Es war eine Woche, ein Tag, an dem eigentlich die Verabredung mit mir selbst im Kalender stand. Ich hatte den Termin gelöscht, und mehrere Geschäftstermine eingesetzt. Dumm!