Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage

Der russische Präsident Wladimir Putin stellte sich in St. Petersburg den Fragen internationaler Nachrichtenagenturen. (Archivfoto) Alexander Kazakov/Pool Sputnik Kremlin/AP/dpa

Kremlchef Wladimir Putin hat die Zahl der ukrainischen Kriegsgefangenen nach mehr als zwei Jahren Invasion in dem Nachbarland auf mehr als 6000 beziffert. Die Zahl sei deutlich höher als die der russischen Soldaten und Offiziere in ukrainischer Gefangenenschaft, sagte Putin bei einem Treffen mit Vertretern großer internationaler Nachrichtenagenturen, darunter die Deutsche Presse-Agentur, in St. Petersburg. Die Ukraine habe 1348 Russen in Gefangenschaft, Russland hingegen habe 6365 Gefangene des Nachbarlandes. Unabhängig lässt sich das nicht überprüfen.

Putin sagte auf eine Frage, wie hoch die russischen Verluste in dem Krieg seien, dass keine Konfliktpartei konkrete Angaben dazu mache. Aber die Zahlen verhielten sich in einem ähnlichen Verhältnis wie bei den Gefangenen. Auch hier behauptete er, dass die Ukraine deutlich höhere Verluste als Russland in dem Krieg verzeichne. Die ukrainische Seite dagegen betont, dass deutlich mehr russische als eigene Soldaten fielen in dem Krieg.

Die Ukraine beziffert die Zahl der getöteten und verletzten russischen Soldaten auf mehr als eine halbe Million. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte im Februar die Zahl der getöteten Soldaten in den eigenen Reihen mit 31.000 angegeben.

Putin: Taurus-Lieferungen würden Beziehung zu Russland zerstören

Für den Fall, dass russisches Staatsgebiet von der Ukraine mit aus dem Westen gelieferten Waffen angegriffen werde, droht Putin mit einer «asymmetrischen Antwort». «Wir denken darüber nach, dass falls jemand es für möglich hält, Waffen in die Kampfzone zu liefern, um Angriffe auf unser Gebiet durchzuführen (...), warum wir dann nicht das Recht haben sollten, solche Waffen in Weltregionen aufzustellen, wo Angriffe auf sensible Objekte derjenigen Länder ausgeführt werden, die das in Bezug auf Russland tun?», sagte Putin bei einem Treffen mit Vertretern großer internationaler Nachrichtenagenturen, darunter dpa, in St. Petersburg. Dann fügte er hinzu: «Das heißt, dass die Antwort asymmetrisch sein kann. Wir denken darüber nach.»

Zudem warnte Putin vor einer möglichen Lieferung von deutschen Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine. «Wenn nun gesagt wird, dass (in der Ukraine) auch noch irgendwelche Raketen auftauchen, die Angriffe auf Objekte auf russischem Gebiet durchführen können, dann zerstört das natürlich endgültig die russisch-deutschen Beziehungen», sagte Putin. Er war nach Moskaus Reaktion im Falle einer Lieferung der weitreichenden Taurus-Marschflugkörper durch Berlin an Kiew gefragt worden.

Das Medien-Treffen im markanten Wolkenkratzer Lachta-Zentrum des Gasriesen Gazprom ist die erste internationale Begegnung dieser Art seit Beginn von Putins Krieg gegen die Ukraine. Putin ist Gastgeber des 27. St. Petersburger Internationalen Wirtschaftsforums. Bei dem jährlichen Treffen von Unternehmern aus aller Welt will sich Russland trotz der Sanktionen des Westens im Zuge des Moskauer Angriffskrieges gegen die Ukraine als ökonomisch starke Rohstoffmacht präsentieren.

Selenskyj unterwegs: erst Katar - dann Frankreich

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist heute unterdessen zu Gesprächen ins Emirat Katar gereist. Mit Ministerpräsident Mohammed bin Abdulrahman Al Thani wolle er über die Vermittlung des Staates im Mittleren Osten bei der Rückkehr von ukrainischen Kindern aus Russland sprechen, teilte Selenskyj über soziale Netzwerke mit. Gegenstand seien zudem bilaterale ökonomische Fragen und der für Ende kommende Woche (15. und 16. Juni) geplante Friedensgipfel in der Schweiz, an dem Katar teilnehmen werde.

Katar hatte mehrfach zwischen den beiden verfeindeten Staaten bei der Rückkehr von Kindern und Jugendlichen in die Ukraine, aber auch nach Russland vermittelt. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat wegen des Vorwurfs der Verschleppung von ukrainischen Kindern aus von Russland besetzten Gebieten einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin erlassen.

Katar veröffentlichte parallel zur Ankunft Selenskyjs in Doha eine Erklärung zu den «starken Beziehungen» mit der Ukraine. Katar habe sich seit den ersten Tagen des «russisch-ukrainischen Konflikts» für eine «friedliche Lösung» eingesetzt, hieß es der staatlichen Nachrichtenagentur QNA zufolge. Doha erwähnte dabei auch seine Rolle als Vermittler sowie seine «entscheidende Rolle» bei der humanitären Hilfe in dem Krieg.

Treffen im Élysée-Palast

Morgen wird Selenskyj zu einem zweitägigen offiziellen Besuch nach Frankreich reisen. Präsident Emmanuel Macron will ihn dann am Freitag im Élysée-Palast empfangen, wie der Élysée der Deutschen Presse-Agentur mitteilte.

Die beiden wollten die Lage im Abwehrkampf gegen die russische Invasion und die Bedürfnisse der Ukraine erörtern, hieß es. In seiner abendlichen Videoansprache betonte Selenskyj einmal mehr, wie wichtig es sei, in Zusammenarbeit mit internationalen Partnern die Verteidigungsfähigkeiten seines Landes zu stärken.

Bereits bekannt war, dass Selenskyj morgen in der Normandie am Gedenken an die dortige Landung der Alliierten im Zweiten Weltkrieg vor 80 Jahren teilnimmt. Macron hatte angekündigt, dass er sich zu diesem Zeitpunkt zur Frage einer möglichen Entsendung französischer Militärausbilder in die Ukraine äußern will. Offiziell gibt es solche Ausbildungsprogramme bislang nicht. Der vierte Besuch des ukrainischen Präsidenten seit dem russischen Angriff vor mehr als zwei Jahren biete Macron eine Gelegenheit, die Entschlossenheit Frankreichs zu bekräftigen, hieß es aus dem Élysée-Palast.

Selenskyj trifft auch Unterstützer Biden

Auch US-Präsident Joe Biden will am Rande der Gedenkveranstaltung mit Selenskyj zusammenkommen. Er wolle mit ihm darüber beraten, wie die US-Regierung ihre Unterstützung für die Ukraine fortsetzen und vertiefen könne, sagte Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan an Bord der Regierungsmaschine Air Force One auf dem Flug nach Paris. Auch beim Gipfel der sieben großen westlichen Industrienationen (G7) kommende Woche in Italien sei ein persönliches Treffen zwischen Biden und Selenskyj geplant.

Auf die Frage, ob die Ukraine bereits mit von den USA gelieferten Waffen auf militärische Ziele in Russland gefeuert habe, entgegnete Sullivan, er wolle nicht für das ukrainische Militär sprechen. Die US-Regierung hatte der Ukraine Ende vergangene Woche die Erlaubnis erteilt, amerikanische Waffen in begrenztem Umfang gegen Ziele auf russischem Gebiet einzusetzen. Die Bundesregierung folgte dem Schritt mit Blick auf von Deutschland gelieferte Waffen. Sullivan betonte außerdem, dass die US-Regierung nicht plane, eigene Militärberater oder Ausbilder in die Ukraine zu entsenden, um ukrainische Soldaten dort zu trainieren.

Bei einigen Kommentatoren des russischen Angriffskrieges sorgte eine etwas kryptische Aussage Bidens zu einem potenziellen Nato-Beitritt der Ukraine für Aufsehen. Auf die Frage nach einer Friedenslösung für das Land sagte Biden in einem Interview mit dem US-Magazin «Time»: «Frieden bedeutet, dafür zu sorgen, dass Russland die Ukraine nie, nie, nie, nie besetzt.» Damit sei aber nicht gemeint, dass die Ukraine Teil der Nato sei. «Es bedeutet, dass wir mit ihnen eine Beziehung haben, wie wir sie mit anderen Ländern haben, wo wir ihnen Waffen liefern, damit sie sich in Zukunft selbst verteidigen können.»

Wird die Ukraine in die Nato aufgenommen?

Die USA und die Ukraine verhandeln aktuell über ein bilaterales Sicherheitsabkommen. Hintergrund ist, dass sich die G7-Gruppe westlicher Wirtschaftsmächte beim Nato-Gipfel in der litauischen Hauptstadt Vilnius im vergangenen Jahr dazu verpflichtet hat, die Ukraine mit langfristiger militärischer und finanzieller Hilfe besser schützen. Eine entsprechende Erklärung wurde unterzeichnet. Weitere Staaten schlossen sich damals dem Abkommen mit den G7-Staaten an. Die Erklärung bleibt aber weit hinter der Sicherheitsgarantie zurück, die etwa ein Beitritt zum Verteidigungsbündnis Nato bieten würde.

Biden hatte in der Vergangenheit immer wieder betont, dass die Ukraine noch nicht bereit für einen Nato-Beitritt sei - eine Mitgliedschaft in der Zukunft aber nicht ausgeschlossen. Ein hoher US-Regierungsvertreter hatte vor einigen Wochen bekräftigt, dass die Ukraine beim bevorstehenden Nato-Gipfel in Washington keine Einladung zum Beitritt in das westliche Verteidigungsbündnis bekommen werde. Auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hatte Hoffnungen der Ukraine auf eine baldige Einladung zur Mitgliedschaft zuletzt gedämpft.

Ukrainischer Beschuss auf besetztes Dorf

In einem russisch besetzten Dorf in der Südukraine sollen nach Angaben der Besatzungsverwaltung elf Menschen durch ukrainischen Artilleriebeschuss verletzt worden sein. Ein fünfjähriges Mädchen sei seinen Verletzungen erlegen, teilte der Chef der von Russland eingesetzten Verwaltung für das Gebiet Saporischschja, Jewgeni Balizki, am Mittwoch auf Telegram mit. Eine unabhängige Bestätigung für das Geschehen gab es zunächst nicht. Das Dorf Nowoslatopil sei am Dienstagabend beschossen worden. Karten des Frontverlaufs zufolge liegt das ukrainische Dorf etwa drei Kilometer hinter der vordersten russischen Linie.

Ukraine erhöht Status der englischen Sprache

Das ukrainische Parlament stärkt unterdessen mit einem neuen Gesetz den Status der englischen Sprache. Künftig sind gute Englischkenntnisse Einstellungsvoraussetzung für viele ukrainischen Staatsangestellte, wie das Parlament in Kiew beschloss. Mit einem höheren Englischniveau soll das Land attraktiver für Touristen und international konkurrenzfähiger werden. Die Aufwertung von Englisch in der Ukraine sei «eine Notwendigkeit und ein strategischer Schritt zur vollwertigen Mitgliedschaft unseres Staates in der Europäischen Union», hieß es zur Begründung des Gesetzes.

Russland zerstört neun Gigawatt Kraftwerksleistung

Nach dem russischen Einmarsch 2022 hat die Ukraine laut Regierungsangaben durch Raketen- und Drohnenangriffe mehr als neun Gigawatt Kraftwerksleistung verloren. «Die Situation ist sehr ernst», sagte der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal bei einer Regierungssitzung. Der Netzbetreiber Ukrenerho sei aufgrund des Energiemangels zu planmäßigen Stromsperren gezwungen.

Der ukrainische Präsident, Wolodymyr Selenskyj (l), wird kommenden Freitag bei einem offiziellen Besuch in Frankreich den französischen Präsidenten, Emmanuel Macron, treffen. Thibault Camus/AP Pool/dpa

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