Innenansichten aus «Zombieland»

Polizisten haben einer Frau bei ihrer Festnahme Handschellen angelegt, nachdem diese sich mit einer anderen Frau auf offener Straße im Bahnhofsviertel geprügelt hatte. Boris Roessler/dpa

Bevor Amar (Name geändert) die wenigen Meter zum öffentlichen Pissoir durch den Regen sprintet, muss sich der 50-Jährige erst einmal seine durchweichten Schuhe über die zerlöcherten Socken ziehen. «Sorry, heute ist es besonders ekelhaft da draußen», sagt der Mann, als er in seinen Unterschlupf in der Frankfurter Moselstraße im Bahnhofsviertel zurückkriecht. Seit Monaten haust er im Eingang eines ehemaligen Hotels. Auf kaum mehr als zwei Quadratmetern rollt er sich gemeinsam mit einem Kumpel auf einem Stück Pappe zum Schlafen zusammen, in einer Ecke liegt ein Plastikbeutel mit Essen, ein kaputter Koffer dient zugleich als Kopfkissen und Kleiderschrank.

Es ist eine Szene aus dem «Zombieland» - so bezeichnete die britische Boulevardzeitung «Sun» jüngst das Viertel mit der deutlich sichtbaren Drogenszene. Vom «gefährlichsten Slum Deutschlands» war die Rede, «randvoll mit 5000 schlurfenden Junkies und 300 Dealern».

Amar ist einer der Menschen, die irgendwie im Bahnhofsviertel gelandet sind. Und er erzählt, wie es ist, hier zu leben. Das macht er leise und erst, als er die vor dem Eingang zu seinem Lagerplatz gespannte Decke zugezogen hat. Zu oft habe er es erlebt, dass er aus der Gruppe der Junkies, die sich wenige Meter entfernt ihre Crack-Pfeifen anzünden, bepöbelt oder attackiert wird. «Ich habe jede Minute Angst», sagt der aus Algerien stammende Mann - und in dem Moment reißt ein offensichtlich unter Drogen stehender Mann die Decke zur Seite, die für Amar immerhin die Illusion von Privatsphäre ermöglicht.

Hunderte gehören zur Drogenszene

Seit er 2019 nach Frankfurt gekommen sei, lebe er auf der Straße, berichtet der Mann, der bemüht ist, sich mit einem akkuraten Haarschnitt und möglichst sauberer Kleidung einen Rest Würde zu bewahren. Dennoch ist sein Körper vom jahrelangen Heroinkonsum gezeichnet. In den vergangenen zwei Jahren sei es immer schlimmer geworden in den Straßen rund um den Bahnhof. «Ständig gibt es Überfälle, brutale Schlägereien zwischen den Junkies.» Es kämen immer mehr Süchtige «von sonst woher» ins Viertel. «Und der Stoff, der zurzeit kursiert, macht sie total aggressiv.» Hilfe erwartet er sich vor allem von der Stadt: «Ich kann zwar im Nachtcafé duschen und essen, aber um dauerhaft von der Straße wegzukommen, reicht das nicht», sagt Amar.

Hoffnung, dass sich im Vorfeld der Fußball-EM etwas ändert - es werden zahlreiche internationale Gäste zu den in Frankfurt ausgetragenen Partien erwartet - hat er keine: «Für uns interessiert sich hier niemand von denen», sagt er und lässt offen, wen genau er meint.

Das Drogenreferat der Stadt Frankfurt schätzt die Drogenszene im Bahnhofsviertel auf etwa 3300 Menschen, die Konsumräume nutzen. Etwa 300 von ihnen halten sich regelmäßig im Bahnhofsviertel auf. Seit 2012 ist Crack die am weitesten verbreitete Droge in der Szene, gefolgt von Alkohol, Cannabis und Heroin, sagt Anita Strecker vom Drogenreferat. «Die meisten Abhängigen konsumieren polyvalent, das heißt, sehr viele verschiedene Substanzen.»

Die Polizei verzeichnete laut Kriminalstatistik im vergangenen Jahr etwa 8500 Drogendelikte in Frankfurt, 2022 waren es knapp 7000 gewesen. Knapp die Hälfte aller Straftaten mit Drogenbezug seien im Bahnhofsviertel verzeichnet worden, so ein Sprecher der Polizei. Dort gibt es auch vermehrt Personenkontrollen: dem Sprecher zufolge neben täglichen Einsätzen mindestens eine Großkontrolle pro Woche.

Crack als Hauptproblem

Szenenwechsel: Kaum hundert Meter von Amars Unterschlupf entfernt hocken ein Mann in einer Lederjacke und zwei Frauen auf den verdreckten Stufen eines Hauseingangs. Alle drei haben ihre Crack-Pfeifen und ein Feuerzeug vor sich auf den Asphalt gelegt, eine vorbeifahrende Polizeistreife nehmen sie nur beiläufig zur Kenntnis. «Trotzdem gut, dass die da sind», sagt der Mann. «Ohne die Cops wäre das hier noch viel schlimmer.»

Während die Frauen kaum in der Lage sind, einen zusammenhängenden Satz zu formulieren, mischt sich ein weiterer Mann in das Gespräch ein. «Hier wirste doch heute für 'nen Euro abgestochen, das war früher nicht so krass», sagt er kopfschüttelnd. «Mehr als zwanzig Jahre» sei er schon auf harten Drogen, aber die Masse der Süchtigen und die zugleich nicht gestiegene Menge an verfügbaren Drogen würden die Stimmung oft unvermittelt in Aggression umschwenken lassen.

Mit einem Regenschirm über dem Arm nähert sich ein korpulenter Mann der Gruppe am Hauseingang. Ein kurzes Nicken und zwei Sätze reichen - in Sekundenschnelle wechseln ein paar Geldscheine und eine Portion Crack den Besitzer. Dann beginnen die drei, die Droge für den Konsum vorzubereiten. «Jetzt bin ich kurz weg», sagt der Mann und zündet sich seine Crack-Pfeife an. Der Rausch ist kurz, Minuten später kann er wieder reden. «Wir sind kein schöner Anblick, das weiß ich - ich hatte ja auch mal ein richtiges Leben vor dem hier.»

Schicksale wie diese hat Wolfgang Barth in den vergangenen Jahrzehnten hundertfach erlebt. Der 63-Jährige arbeitet seit mehr als 30 Jahren mit Suchtkranken und leitet den Drogennotdienst (DND) in der Elbestraße. «Das Hauptproblem ist Crack», erläutert Barth, der dennoch in den vergangenen zwei Monaten eine «gewisse Beruhigung in der offenen Drogenszene» beobachtet.

Durch die erhöhte Polizeipräsenz fühlten sich die Süchtigen momentan weniger durch aggressive Dealer bedroht und kämen insgesamt etwas mehr zur Ruhe. Die Hilfsangebote des DND blieben unterdessen weiter gefragt: «Unsere zwanzig Übernachtungsplätze und Tagesruhebetten sind eigentlich immer voll», so Barth. Dabei zählten neben «Stammklienten» auch Süchtige aus anderen Städten dazu, die noch nicht lange in Frankfurt seien. Trotz aller Schwierigkeiten steht für Barth die intensive Betreuung der Menschen an erster Stelle. Auch wenn ein völlig drogenfreies Leben für viele schwer zu erreichen sei, könnten viele ein «halbwegs integriertes Leben mit deutlich reduziertem Konsum» führen. «Diese Chance haben alle Menschen, Veränderungen sind immer möglich.»

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