EM 2024: Warum Schottland der ideale Auftaktgegner für das DFB-Team ist

Die schottische Nationalmannschaft spielt zum Start der EM 2024 in München gegen das DFB-Team.

Wenn Schiedsrichter Clément Turpin am Freitagabend um 21 Uhr einmal kräftig in seine Pfeife bläst, hat das Warten endlich ein Ende: Die deutsche Nationalmannschaft eröffnet dann in München die EM 2024, auf die Fans und Spieler seit Monaten hinfiebern.

Rund um das DFB-Team gibt es im Vorlauf kaum Unklarheiten. Dass Manuel Neuer das Tor hütet, Joshua Kimmich als Rechtsverteidiger aufläuft, Toni Kroos die Fäden im Mittelfeld zieht und İlkay Gündoğan die Kapitänsbinde am Arm trägt, ist seit Monaten bekannt.

So klar die Situation rund um die deutsche Nationalmannschaft auch ist, so viele Fragezeichen gibt es mit Blick auf den Gegner. Schottland hat sich nach der EM 2020 zwar zum zweiten Mal in Folge für das Großereignis qualifiziert, ist hierzulande aber ein weitestgehend unbeschriebenes Blatt.

Dabei wollen wir es nicht belassen, zücken unsere Buntstifte und skizzieren damit, was die schottische Nationalmannschaft ausmacht. Es zeichnet sich ein Bild, das dem DFB vor dem Auftakt der Heim-EM gefallen dürfte.

Schottland-Kader für die EM 2024: Drei Stars ragen heraus

Nationaltrainer Steve Clark hat wie Julian Nagelsmann das komplette Kontingent ausgereizt und 26 Spieler in seinen EM-Kader berufen. Die prominentesten Namen sind Kapitän Andy Robertson (FC Liverpool), Scott McTominay (Manchester United) sowie John McGinn (Aston Villa).

Das Trio aus der Premier League kommt laut "transfermarkt.de" auf einen kumulierten Marktwert von 92 Millionen Euro und macht damit fast die Hälfte des gesamten Kaderwertes (207,40 Millionen Euro) aus. Das spiegelt sich auch in der sportlichen Bedeutung der drei Stars wider.

Scott McTominay glänzt im Nationalteam als Torschütze.

Robertson schlägt von der linken Schiene aus gefährliche Flanken, McGinn und McTominay stoßen regelmäßig in die gefährlichen Zonen vor. "Schottland hatte immer Probleme damit, Tore aus dem Mittelfeld heraus zu erzielen. Mit McTominay and McGinn ist das nun kein Problem mehr", sagt der schottische Journalist Padraig Whelan, der für OneFootball schreibt und die Nationalmannschaft während der EM begleiten wird, im Gespräch mit watson.

Vor allem der Manchester-Profi kann dabei auf eine verblüffende Statistik verweisen: Während der EM-Qualifikation sind ihm sieben Treffer gelungen. Einzig die Torjäger Romelu Lukaku, Cristiano Ronaldo, Kylian Mbappé und Harry Kane trafen noch häufiger.

Vier Ausfälle schmerzen Schottland

Eine wichtige Rolle nimmt laut Whelan auch Kieran Tierney ein. Der gelernte Linksverteidiger kann wegen Robertson zwar nicht auf seiner angestammten Position spielen, gibt dem Team als einer von drei zentralen Verteidigern aber dennoch viel.

"Er ist womöglich derjenige, der alles zum Laufen bringt. Tierney ist flexibel, taktisch intelligent und gut am Ball", listet der schottische Journalist die Vorzüge des Verteidigers auf.

Kieran Tierney ist in der schottischen Defensive gesetzt.

Abseits der vier genannten Profis fällt beim Blick auf den schottischen Kader auf, dass viele nicht in einer Topliga kicken. Acht Profis liefen zuletzt in der Scottish Premiership auf, neun in Englands zweiter Liga. Das Niveau ist also nicht das höchste.

Zusätzlich geschwächt wurde der Kader durch die Verletzungen von Lyndon Dykes, der Schottlands physisch stärkster Stürmer gesetzt gewesen wäre. "Er ist so etwas wie der schottische Füllkrug, weil er auch lange Bälle festmachen kann. Ein solcher Spieler fehlt nun", erklärt Whelan.

Auch Rechtsverteidiger Aaron Hickey wäre gesetzt gewesen, verpasst die EM aber ebenso wie Ersatzmann Nathan Patterson. Zu den prominenten Ausfällen zählt zudem Spielmacher Lewis Ferguson, der mit Bologna eine starke Saison in der Serie A absolviert hat.

Schottland: Die Stärken des Teams vor dem EM-Start

Unter Clarke laufen die Schotten in der Regel in einer eher abwartenden 3-5-2-Formation auf. Der Nationaltrainer setzt aber nicht immer auf zwei Stürmer, nach dem Ausfall von Dykes stellte er zuletzt jeweils nur einen zentralen Angreifer auf.

"Der Ansatz ist nicht gerade abenteuerlich", beschreibt Whelan den Spielstil: "Es geht in erster Linie darum, dem Gegner das Leben schwerzumachen und dann über Konter oder Standards selbst gefährlich zu werden."

In der EM-Qualifikation hat das zunächst gut funktioniert, in den ersten fünf Spielen blieb Schottland viermal ohne Gegentor, setzte sich dabei unter anderem im Hinspiel gegen Spanien durch.

Generell stimmte die Balance zwischen Defensive und Offensive. "Viele herausragende Optionen machen es zum besten schottischen Mittelfeld seit Ewigkeiten", sagt Whelan.

Die Probleme von Schottland vor dem DFB-Spiel

In den jüngsten neun Länderspielen lief es aber nicht mehr so rund, die Null stand nur noch ein Mal und Schottland gewann lediglich gegen Gibraltar. Es setzte zudem Niederlagen gegen Spanien, England, Frankreich sowie die Niederlande. Es sind allesamt Gegner, deren Qualität mit der des DFB-Teams zu vergleichen ist.

Der abschließende Test gegen Finnland endete 2:2, zu erkennen war dabei auch die Lücke, die durch die Abwesenheit von Hickey auf der rechten Abwehrseite entstanden ist. "Das dürfte eine große Schwachstelle bei der EM werden", legt sich Whelan fest.

Aaron Hickey verpasst die EM 2024 verletzungsbedingt.

Trotz der Ausfälle sowie der zuletzt wenig berauschenden Ergebnisse herrscht in Schottland Optimismus, zum ersten Mal in der Verbandsgeschichte die Gruppenphase bei einem großen Turnier zu überstehen. "Wenn wir das nicht schaffen, werden wir enttäuscht sein, egal, wie wir spielen", sagte Nationaltrainer Clarke kürzlich deutlich.

Journalist Whelan führt die Sichtweise der Schotten aus: "Die Gruppe ist nicht einfach, aber es hätte auch schlimmer kommen können. Gerade im zweiten Spiel gegen die Schweiz sehen viele das Potenzial für Punkte. Dass die besten Gruppendritten weiterkommen, nährt die Hoffnungen zusätzlich."

Schottland-Fans machen die EM zum Heimturnier

Eine gewichtige Rolle dürften dabei nicht nur die Spieler auf dem Rasen und der Trainer an der Seitenlinie spielen, sondern auch die Fans auf den Tribünen. Die Tartan Army, wie der reisefreudige Anhang genannt wird, folgt dem Team stets in großer Zahl.

Laut des britischen Konsulats könnten bis zu 200.000 Schotten nach Deutschland kommen, offiziell werden bei jedem Spiel 10.000 im Stadion sein. Whelan rechnet damit, dass am Ende noch mehr Schotten ihren Weg auf die Tribünen finden werden. Und dort machen sie in aller Regel lautstark auf sich aufmerksam.

Die schottischen Fans folgen ihrem Team quer durch Europa.

"Ich glaube, dass die deutschen Fans zahlenmäßig unterlegen sein werden", wagt der Journalist eine Prognose. Krawalle erwartet er dabei nicht, vielmehr soll es eine große Fußballparty werden: "Es wird unglaublich, vielleicht das beste Spiel, an dem Schottland je beteiligt gewesen ist."

Schottland ist für das DFB-Team der ideale Auftaktgegner

Das bezieht sich primär auf das Drumherum, auf die Atmosphäre. Denn auf dem Rasen spricht alles für die DFB-Elf. Schottland war zuletzt in keiner guten Form, musste sich vor allem den individuell besser besetzten Gegnern geschlagen geben.

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Dem eigenen Spiel fehlen zudem zwei wichtige Komponenten. Ohne Dykes gibt es keinen Zielspieler, um sich schnell aus dem deutschen Pressing zu befreien. Auf der rechten Abwehrseite fehlt zudem die Stabilität. Hier dürften sich vor allem Florian Wirtz und Jamal Musiala, die am liebsten über halblinks kommen, die Hände reiben.

"Alles, was keine Niederlage ist, wird als großer Bonus betrachtet", spricht Whelan über die Erwartungen für das Auftaktspiel. Schottland mutet daher wie der perfekte Auftaktgegner an – nicht zuletzt auch wegen der lautstarken, zumeist friedfertigen Tartan Army, die in München für einen würdigen Rahmen sorgen wird.