Impostor-Syndrom: Keine Bange, du bist toll!

Etwas mehr Selbstvertrauen würde den meisten nicht schaden, glaubt watson-Autor Mike Kleiß.

Hochstapler:in, Mogelpackung, Blender:in, oder verdammt gutes Pferd im Stall? Was bin ich denn nun? Und darf ich akzeptieren, dass ich vielleicht einfach toll so bin, wie ich bin? Darf man auch ohne Abi und ohne Ausbildung ein Superstar sein? Unser Kolumnist sagt: klares JA!

Und während ich vor diesem weißen Screen sitze, um diese Kolumne zu schreiben, frage ich mich: Darf ich hier überhaupt sein? Darf ich hier überhaupt schreiben? Ich? Was qualifiziert mich denn dazu, bei watson "Mental Health to go" zu schreiben?

Ich habe nie Psychologie studiert. Ich habe nie hauptberuflich als Experte in einer Online-Redaktion gearbeitet, ich sollte mich fast schämen. Da draußen laufen so viele Leute rum, die total im Thema sind. Die sich seit Jahren wissenschaftlich damit beschäftigen, und da komme ich um die Ecke? Und versuche etwas für eure mentale Gesundheit zu tun? Lächerlich, sagt die eine Stimme in mir.

Und dann schaue ich während des Schreibens aufs Meer und lese mir all die tollen Nachrichten von euch durch. Menschen, denen diese Kolumne augenscheinlich gefällt, denen sie sogar hilft. Dann stelle ich fest, dass ich inzwischen seit zwölf Jahren in Abwandlungen über dieses Thema schreibe und andere zum Nachdenken und in Bewegung bringen konnte. Das ist dann die innere Stimme, die mir sagt: Na klar darfst du!

Zwei Stimmen, die beinahe täglich miteinander kämpfen. Das ist wahnsinnig anstrengend, das kostet so wahnsinnig viel Energie. Ich bin kein Hochstapler, ich habe nur leider das Impostor-Syndrom.

Impostor-Syndrom: Gut, dass ich damit nicht allein bin

Es gibt Studien, die belegen: Zwei von fünf erfolgreichen Menschen würden sich selbst als Hochstapler einstufen. Andere Studien kommen zum Ergebnis, dass sich 70 Prozent aller Menschen unter bestimmten Umständen als Hochstapler bezeichnen würden. Und alleine das zu wissen, macht mich glücklich. Nach Studie zwei wären wir ja fast alle eine große Mogelpackung. Wie beruhigend.

Wenn ich also kommende Woche wieder den Vorstand und die Geschäftsführung eines großen Fußballvereins berate, geht das völlig in Ordnung. Weil ich ja endlich weiß: Ich fühle mich zwar ab und an als Mogelpackung, bin aber alles andere als das. Denn: Erfolgreiche Menschen haben schließlich mich kleine Wurst ausgewählt, um sie zu coachen. Es sind zudem sechs Personen, mindestens zwei der Fußballmanager fühlen sich statistisch gesehen also wie ich. Das ist wirklich eine sehr, sehr gute Nachricht.

Und noch besser: Obwohl diese starke Form der Selbstzweifel ernsthafte gesundheitliche Folgen haben kann, zum Beispiel Stress, Burnout, Depressionen, ist das Hochstapler-Syndrom im weltweit anerkannten Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen (ICD) nicht als Krankheit gelistet. Wissenschaftler:innen sehen darin eher ein Persönlichkeitsmerkmal und sprechen lieber von einem Hochstapler-Phänomen oder Selbstkonzept. Ich bin also nicht krank. Ich muss keine Pillen nehmen, ich muss mich auch nicht einweisen lassen. Immerhin.

Die erschreckenden Zahlen müssen ja einen katastrophalen Grund haben. Diesen zu erfahren, hat mir lange Angst gemacht. Denn ich hatte immer eine Befürchtung.

Das Impostor-Syndrom bringt eine extreme Unsicherheit mit sich.

Was hilft gegen das Impostor-Syndrom? Vor allem Anerkennung!

Es gibt nicht den einen Grund, der dich fühlen lässt, eine Mogelpackung zu sein. Es gibt aber einen, der mich persönlich berührt hat: mangelnde Anerkennung in der Kindheit. Oftmals haben Betroffene in der Kindheit gelernt, dass Anerkennung der Eltern mit Leistung verknüpft ist. Viel zu selten ernten Kinder Anerkennung dafür, wie sie sind. Oder einfach und alleine für die Tatsache, dass sie überhaupt sind. Dass es wunderbar ist, wie sie sind, und dass sie toll so sind, wie sie sind.

Keine Ahnung, wie es bei euch so war. Aber auch mir wurde lange suggeriert: Wer abliefert, hat Anerkennung verdient. Erst später, eigentlich erst seit einigen Jahren, sagt mein Vater offen zu mir, dass er viele meiner Charakterzüge schätzt und liebt. Das ist keine Kritik, ich bin froh darüber, dass er das heute überhaupt so ausdrücken kann, denn ich weiß: Damit bin ich gesegnet. Viele in meinem Umfeld haben sowas von ihren Eltern nie gehört. Und das fehlt ihnen sehr.

"Du hast Menschen etwas geben können, du wirst geschätzt für das, was du bist. Nicht für das, was du hast."

Es gibt aber zwei weitere Gründe für das Syndrom: Diskriminierung und Ungerechtigkeitserfahrung! Diskriminierung führt häufig dazu, dass Menschen tatsächlich mehr leisten müssen, um die gleiche Anerkennung wie andere zu erhalten. Das begünstigt die Ausbildung des Impostor-Syndroms – oder ist vielleicht sogar eine notwendige Konsequenz dessen.

Die Wissenschaftlerinnen Pauline Clance und Suzanne Imes entwickelten in den 70er Jahren das Hochstapler-Syndrom, indem sie gerade Frauen am Arbeitsplatz beobachteten. Nichtsdestoweniger stimmen die meisten Studien mittlerweile überein, dass die Geschlechter annähernd gleich vom Impostor-Syndrom betroffen sind. Und jetzt?

Meldung

Von der Mogelpackung zum gesunden Selbstbewusstsein

Bis heute war es ein langer Weg, das Impostor-Syndrom zu besiegen. Mein eigenes Selbstbewusstsein zu stärken, kostete im Grunde schon genug Arbeit und Energie. Und das funktionierte auch nur durch den ständigen Dialog, durch die dauernde Auseinandersetzung mit mir selbst. Mein Mantra war über viele Jahre hinweg: "Schau genau hin, was du alles geleistet hast. Du bist ab und an gefallen, und bist wieder aufgestanden. Selbst in Situationen, in denen es kaum einen Horizont gab. Sowohl im Job, als auch im Privaten. Du hast Menschen etwas geben können, du wirst geschätzt für das, was du bist. Nicht für das, was du hast."

Gerade der zweite Teil dieses Mantras hat massiv zu meinem eigenen Heilprozess beigetragen. Auf der anderen Seite habe ich mich mit meiner Agentur selbständig gemacht, um Menschen, um Mitarbeitende zu stärken. All denen unter ihnen mit dem Syndrom zu zeigen: Du bist hier sehr gewollt.

Das Abschaffen der Null-Fehler-Mentalität war die Basis von allem. Gute Führung, viel Anerkennung, Stärken zu stärken, all das führte dazu, dass unser Klima, dass unsere Kultur das Syndrom nahezu ausgelöscht hat. Und trotzdem werde ich kommende Woche beim Vorstand des Fußballvereins sitzen und denken: Echt jetzt? Ich hier? Und innerlich schüttel’ ich den Kopf.