EM 2024: Mein verrückter Tag mit 40.000 Niederländern

Die niederländischen Fans haben ein Fußballfest in Hamburg gefeiert.

Am Horizont verschwinden die dunklen Wolken langsam, ein paar Möwen kreisen gemächlich über den Vorplatz am Millerntor-Stadion. Schließlich und mit aller Kraft kämpfen sich die Sonnenstrahlen durch das verhangene Firmament im Hamburger Stadtteil St. Pauli und tauchen die Fläche in ein Farbenmeer aus Orangetönen.

Am Samstag noch war die Fanzone neben dem Millerntor-Stadion wegen Sturmböen geschlossen gewesen. Nun, Tags darauf, erstrahlt die Fanmeile am Heiligengeistfeld in seiner Farbenpracht, sie glüht über die ganze Stadt hinweg. Orange is the new Black.

Es gab einige Startschwierigkeiten im Hinblick auf eine allgemeine, pulsierende EM-Stimmung. Spätestens aber, als Schottland München in Glasgow verwandelt und das DFB-Team sich als Dank mit einem 5:1-Sieg zum Auftakt revanchiert hat, schwappte die Fußball-Euphorie in jede Rille bundesdeutscher Großstädte. Albanien stellte Dortmund auf den Kopf und am Sonntag zeigten die niederländischen Fans, wie sehr man eine Stadt für sich einnehmen kann.

Für 10.30 Uhr ist ein Fan Walk angesetzt, vom Millerntorplatz über den Holstenwall, den Sievekingplatz und die Glacischaussee bis zurück zum Millerntorplatz, bevor später, um 15 Uhr, die Niederlande gegen Polen in die Europameisterschaft starten. 40.000 Personen waren angekündigt, letztlich sind es knapp 17.000, der Rest hat sich auf die Stadt verteilt – man hätte es nicht gemerkt.

EM 2024: Niederlande im Hamburg – eine Stadt in Orange

Schon am Hauptbahnhof stellt sich am Morgen die für viele vorerst dringendste Frage: Bier oder Kaffee? Schnell ist ein Trend zu erkennen, wobei Niederländisch ja ohnehin immer ein bisschen wie betrunkenes Deutsch klingt.

Der Zug setzt sich allmählich in Gang, ein Vater verteilt mit seinen beiden Kindern orange Luftballons, es sind Menschen in Kürbis- und Möhrenkostümen, in US-Sträflingsklamotten, in Blousons und Blaumännern sowie im Anzug, mit gefärbten Irokesen, Hüten und Haaren, mit Mähnen und Perücken sowie Ruud-Gullit-Gedächtnisfrisuren. Es ist auch eigentlich egal, was man anhat, solange es in den Landesfarben gehalten ist.

An der Spitze hat sich eine Trommeltruppe festgesetzt, die unter lautem Gegröle den Marsch vorgibt. Der Evergreen an diesem Tag, beim Anheizen und im Stadion, ist ein Song, dessen Text nicht klar zu verstehen ist, aus der Performance geht allerdings hervor, dass es wohl darum geht, dass alle, die nicht hüpfen, polnisch sein sollen. Und sie hüpfen alle. Es wird getanzt und gesungen und geschunkelt. "Sowas habe ich noch nicht erlebt", sagt Tom, ein Fan aus Utrecht gegenüber watson.

Niederlande: Pyrotechnik ist doch kein Verbrechen

Eine Szene geht später als Video viral: Ein glühendes Meer an Orange wippt synchron von rechts nach links, von links nach rechts. Aus ihrer Mitte recken Büsten einiger Elftal-Legenden hervor: Marco van Basten, Johan Cruyff, Dennis Bergkamp.

Die Karawane wird flankiert von Schaulustigen, es ist ein bisschen wie ein Karnevalsumzug, nur dass statt Kamelle seichte Pyrotechnik die Feierwütigen umhüllt. Auch musikalisch gibt es frappierende Ähnlichkeiten, ohnehin ist man erstaunt, wie sehr das europäische Brauchtum der Fußballgröl-Lieder offenbar aus demselben Fundus schöpft.

Die niederländischen Fans feiern ihre Mannschaft.

Auch wenn das alles auf viel Begeisterung bei Passant:innen stößt, wird man an einer Stelle doch recht unsanft daran erinnert, dass die Niederlande im Fußballerischen für Deutschland so etwas wie der Erzfeind sind. In eine Straße einbiegend, wird der Umzug von aus Fenstern gestreckten Mittelfingern empfangen, was Teile eben jenes Umzugs dazu animiert hat, etwas zu singen, was auf Nachfrage als "Alle Deutschen sind schwul" übersetzt wurde – es sollte an dem Tag bei diesem Vergehen bleiben.

Traditionelle Rivalität zwischen Deutschland und den Niederlanden

An den Austragungsort Deutschland haben die Niederlande gute Erinnerungen – an die dahinterstehende Nation traditionell nicht so sehr. Das habe sich auch bis heute nicht geändert, sagt der Oranje-Fan Tom. Trotzdem sei das mit einem Augenzwinkern zu verstehen. "Ich kann mit dir reden, du kannst mit mir reden – das ist alles nur Spaß."

Bei der Europameisterschaft 1988 gewann die Elftal hier ihren einzigen großen Titel. Im selben Turnier feierte der heutige Nationaltrainer Ronald Koeman den Halbfinaleinzug damit, dass er so tat, als wische er sich den Hintern mit dem Trikot von Olaf Thon ab. Zwei Jahre später rotzte Frank Rijkaard vollmundig in die güldenen Locken von Rudi Völler – ein Motiv übrigens, das ein Fan als Print auf seinem T-Shirt mit der Aufschrift "Lack of Guidance" von der gleichnamigen Marke aus Amsterdam trägt.

Die Oranje-Fans sind am Sonntagvormittag durch Hamburg gezogen.

Kultige T-Shirts scheinen generell das It-Piece der niederländischen Fan-Garnitur zu sein. Angesagt sind etwa Trikots mit den Aufschriften "Memphis De Pils", "Van de Kaart" oder "Frenkie de Tong" – semi-obszöne Wortspiele, die an Spielernamen angelehnt sind. Andere embracen ihre eigenen Klischees vollends; manche tragen mit Tulpen bestickte Anzüge oder Clogs – gekifft wird allerdings trotzRatschlag der Gelsenkirchener Polizei nicht.

EM 2024: Die polnischen Fans warten bereits am Volkspark-Stadion

Abgesehen von dem homophoben Gesang bleibt die Veranstaltung aber friedlich, was bei Fußballveranstaltungen nicht selbstverständlich ist. Gegen Mittag bedrohte ein Mann auf der Reeperbahn Einsatzkräfte mit einem Spitzhacke, in der anderen Hand hielt er einen Molotow-Cocktail. Nach Angaben der Polizei habe es dabei aber keinen EM-Bezug gegeben.

Im Vorfeld gab es Sorgen um gewalttätige Ausschreitungen der Ultra-Szenen, in den Niederlanden gab es zuletzt immer wieder Eskalationen bei Ajax Amsterdam und Feyenoord Rotterdam. Aber wo sind eigentlich die polnischen Fans?

Höre hier den Trailer des neuen watson-Podcasts "Toni Kroos – The Underrated One" – natürlich kannst du ihn auch gerne direkt abonnieren:

Nur vereinzelt sieht man einige rot-weiße Flecken über die Fanzone huschen. Die niederländischen Fans hätten "kein Geld für Tickets", versichert mir einer dieser Flecke, deswegen würden sie hier im Public-Viewing-Bereich sein. Die polnischen Fans seien bereits am Volkspark-Stadion.

Also zum Stadion: Am Bahnhof führen Shuttle-Busse zur Arena, Bert und Carola, Mitte 60, schwärmen davon, wie gut alles organisiert sei. "Tolles Wetter, nette Menschen, alle sind freundlich." Die polnischen Fans werden am Wegesrand nett gegrüßt, es werden Devotionalien getauscht und Fotos gemacht, die Polizist:innen freundlich gehighfivet. "Da geht noch mehr", ruft ein Polizist per Megafon der niederländischen Fangemeinschaft entgegen, worauf eine liebevolle Rangelei um das Sorgerecht für den Stimmverstärker ausbricht.

EM 2024: Niederländische und polnische Fans tanzen gemeinsam

Und tatsächlich sollte der vereinzelte polnische Fan Recht behalten. Zwar tragen rund 20.000 der 50.000 Zuschauer:innen im Stadion orange, stimmungstechnisch sind die Polen aber nur marginal unterlegen.

Polnische und niederländische Fans feiern gemeinsam.

"Die Fans waren da heute, das war echt überragend", sagte Siegtorschütze Wout Weghort später. "Wir haben das natürlich den ganzen Tag schon gemerkt, auch vorgestern." Die Niederlande haben das Spiel übrigens mit 2:1 gewonnen, das sei hier nur am Rande erwähnt, es spielt auch eigentlich keine Rolle.

Später, die Partie ist seit Stunden vorbei, stehen niederländische und polnische Fans gemeinsam am S-Bahnhof. Es hat mittlerweile angefangen zu regnen, aus Musikboxen dröhnt eines der Lieder, zu den sich in allen Sprachen tanzen lässt. Polen und Niederländer liegen sich in den Armen und feiern, Jung und Alt, Väter mit ihren Kindern. Am Rand stehen polnische und niederländische und deutsche Polizist:innen und schauen lächelnd auf das friedliche Spektakel. Wer braucht da noch gutes Wetter, um von einem Sommermärchen zu sprechen?