Wie drastisch muss Aktivismus sein? Aktivistin über Burnout und Grenzen

Victoria Müller versucht, in der Ukraine so viele Tiere wie möglich zu retten.

Victoria Müller macht viele Dinge auf einmal. Sie studiert, rettet Tiere in der Ukraine und renoviert ein Pfarrhaus, um dort einen Lebenshof zu gründen. Jetzt hat sie ein Buch über ihren Aktivismus geschrieben.

Bereits der Klappentext zu Victoria Müllers Buch "Be a Rebel: Ermutigung zum Ungehorsam" könnte bei manchen für Aufsehen sorgen. Da heißt es, dass es Kampfgeist, Emotionen, drastische Meinungsäußerungen und Aktionen braucht, um Veränderungen zu bewirken.

Ein Punkt, der gesellschaftlich nicht gerade unstrittig ist. Immer wieder ecken Aktivist:innen an, immer wieder wird über die Methodik und die Effektivität radikaler Aktionen debattiert. Ob es nun um die Klebe-Proteste der Letzten Generation oder um Sachbeschädigung geht. Für viele Menschen hört der Spaß auf, wenn es sie persönlich betrifft, weil der Protest sie plötzlich privat erreicht.Warum Victoria das so anders sieht, erklärt sie im watson-Interview:

watson: Victoria, du sagst, es braucht das gezielt Drastische, um etwas loszutreten. Wieso?

Victoria Müller: Protestformen, die als "zu drastisch" oder gar "radikal" wahrgenommen werden, erregen die meiste Aufmerksamkeit. Nun könnte man argumentieren, dass diese Aufmerksamkeit ja nicht per se gut ist oder der Sache dienlich. Da sagt die Soziologie etwas anderes, denn dort gibt es das Konzept der radikalen Flanke.

Was bedeutet das konkret?

Radikale Aktionen von Gruppen wie Ende Gelände oder Letzte Generation können dazu führen, dass moderatere Ansätze, wie die von Fridays for Future, mehr Akzeptanz finden. Radikale Gruppen schaffen zudem Diskussionsräume und tragen dazu bei, die Notwendigkeit von Veränderungen hervorzuheben. Fazit: Sympathie allein reicht nicht, um die Welt zu retten. Deshalb braucht es auch das "Drastische".

Wann erschien dir trotz dessen das letzte Mal etwas zu radikal?

Ich werte Protest immer individuell und würde nicht per se sagen, dass eine brennende Barrikade oder ein Stau auf der Frankfurter Allee in Berlin jetzt zu radikal war. Ich kann mich gar nicht erinnern, was mir als zu radikal im Kopf blieb.

Gab es bestimmte Schlüsselmomente, die dich zur Rebellin gemacht haben?

Als Kind ging ich auf eine Demonstration mit meinem Vater gegen die Schließung von Proberäumen in Frankfurt. Damals habe ich gemerkt, dass man im Verbund mit anderen Menschen seine Meinung auf die Straße tragen und damit sogar Veränderungen erwirken kann. Hier habe ich gelernt: Man kann und darf sich lautstark für wichtige Themen einsetzen und muss auch mal ein Gegengewicht herstellen.

"Ich muss andere Krisen und Kriege 'ausblenden', weil ich sonst zerbrechen würde."

Wann bist du heute besonders rebellisch?

Besonders rebellisch bin ich sicherlich bei Tierbefreiungen, weil man dabei quasi gegen Gesetze verstößt. Das ist wohl in den Augen vieler Menschen rebellisch.

Zusammen mit anderen Aktivist:innen befreit Victoria Hasen aus der Massentierhaltung.

Wie bringt man andere Menschen dazu, sich zu engagieren? Kann ein Buch da wirklich was bewirken?

Ich glaube, darauf gibt es keine universelle Antwort. Was definitiv hilft: Selbst vormachen, wie es geht, um möglichst andere Menschen zu inspirieren und darüber sprechen. Wenn das Thema präsent bleibt, egal wie – auch in der Literatur, dann werden auch Menschen darauf aufmerksam und engagieren sich.

Armut, Tierleid, Kriege: Überall, wo wir hinsehen, scheint es zu brennen. Wie setzt du da Prioritäten?

Es gibt Themen, denen ich meine ungeteilte Aufmerksamkeit schenke und Bereiche, in denen ich aktiv bin. Um das tun zu können, muss ich andere Krisen und Kriege "ausblenden", weil ich sonst zerbrechen würde.

"Die Reißleine musste ich nur einmal ziehen, als ich Panikattacken entwickelt habe."

Wie nah lässt du deine Arbeit mental an dich ran?

Die psychische Belastung meines Aktivismus ist sehr hoch, Krieg ist nicht nur eine Gefahr für Leib und Leben, es ist auch psychisch sehr herausfordernd. Meiner Ansicht nach ist es auch wichtig und gut Prioritäten zu setzen und nicht das gesamte Leid der Welt auf den eigenen Schultern zu tragen.

Dieses kleine Tier sollte mal als Weihnachtsgans enden.

Woran merkst du, dass das bei dir Spuren hinterlässt?

Seit den regelmäßigen Einsätzen im Kriegsgebiet der Ukraine merke ich, dass ich nicht mehr so fröhlich und unbeschwert bin. Häufig trage ich eine Schwere in mir, bin traurig oder ernst. Nach einem unserer Einsätze hatte ich Panikattacken entwickelt, um die ich mich umgehend gekümmert und die ich in den Griff bekommen habe. Die posttraumatische Belastungsstörung ist kein Spaß und kann jene ereilen, die, wie wir, in solch belastenden Situationen helfen. Activist Burnout ist tatsächlich etwas, was aktivistische Menschen schnell treffen kann. Da Aktivismus ein Marathon ist und kein Sprint, sollten wir unsere Kräfte auch mal schonen, um nicht vorzeitig nicht mehr zu können.

Und was tust du, um dich selbst zu schützen?

Ich versuche zu reden, im Austausch zubleiben und im Zweifel professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ich bin sehr resistent, was Stress und belastende Situationen anbelangt. Aber ich muss schon schauen, dass ich gesund bleibe – vor allem mental. Durch meine chronische Schmerzerkrankung Endometriose, aber auch körperlich.

"Wenn man sich mit der Vergangenheit von Protestbewegungen befasst, wirken unsere Generationen gar nicht mehr so rebellisch."

Du machst unglaublich viele Dinge parallel. Woher ziehst du diese Energie?

Ich mache Dinge, die mich erfüllen, die sinnstiftend sind und mir auch Spaß machen – das mag komisch klingen. Aber ich mache das gerne. Jedes gerettete Leben gibt mir die Motivation weiterzumachen. Ich bin der festen Überzeugung, dass jeder Mensch im Großen und im Kleinen etwas bewegen kann und dass wir gemeinsam die Welt zu einem besseren Ort machen können.

Kannst du vom Aktivismus leben?

Nein, im Gegenteil. Ich stecke mein Geld in den Verein, in Tierpatenschaften und allem, was ich sonst so mache. Die Herausforderung ist tatsächlich, Dinge "nebenbei" zu machen, die das Leben finanzieren. Da habe ich Glück mit meinem Job. Durch Kooperationen auf Instagram und Moderationsjobs kann ich mir mein Leben finanzieren und nutze jede freie Sekunde für meinen Aktivismus.

Hast du manchmal das Gefühl, deshalb "nur" als Influencerin wahrgenommen zu werden?

Ich glaube, viele Menschen sehen eher die Werte, für die ich stehe und folgen mir auch deswegen. Das ist zumindest das Feedback, was ich häufig erhalte. Und ich lasse mich auch nicht gerne reduzieren.

Was hältst du von "Instagram-Aktivismus", also wenn man aktivistische Beiträge einfach nur liket und teilt?

Clicktivism hat zu Unrecht einen schlechten Ruf. Er wird oft kritisiert, weil er oberflächlich bleibt und keine tiefgehende Auseinandersetzung erfordert, aber er kann dennoch ein breiteres Bewusstsein für Themen schaffen und Menschen zur Teilnahme ermutigen, die sonst nicht aktiv wären. Studien zeigen, dass Clicktivism effektiv sein kann, um weniger bekannte Ideen zu verbreiten und den Offline-Aktivismus zu ergänzen. Bewegungen wie Occupy Wall Street, Black Lives Matter und #MeToo haben durch Clicktivism Aufmerksamkeit gewonnen.

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Reicht es also, sich online zu engagieren?

Nein, für nachhaltigen sozialen Wandel nicht; es braucht auch tiefere Auseinandersetzung und weitere Aktionen.

Die Gen Z gilt als rebellischer als andere Generationen. Ist das wirklich so?

Wenn man sich mit der Vergangenheit von Protestbewegungen befasst, wirken unsere Generationen gar nicht mehr so rebellisch. Vergangene Proteste waren wesentlich gewaltvoller und ausschweifender.

Welche meinst du?

Die frühen Frauenrechtsbewegungen der Suffragetten im frühen 20. Jahrhundert oder die Bewegung für Arbeitsrechte in den späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zum Beispiel. Jede Generation bringt ihre Rebellion hervor. Ich würde mir nur bei älteren Generationen mehr Verständnis für den Protest der jüngeren Menschen wünschen.