Putins Krieg: So vernichtet Russland ukrainische Frontstädte

Russland hat die Zerstörung der ukrainischen Frontstädte im Jahr 2024 in einem bisher nicht gekannten Ausmaß vorangetrieben. ©AP/Russian Defense Ministry Press Service

Die erste Druckwelle zerschmetterte Gänge, die fast bis zur Decke mit Heimwerkerutensilien gefüllt waren. Die nächste russische Bombe schlug Sekunden später wie ein Komet ein. Ein Feuer entfachte. Das große Einkaufszentrum lag in Schutt und Asche.

Eine dritte Bombe detonierte nicht, als sie hinter dem Epicenter-Einkaufszentrum in Charkiw landete. Die Ermittler hoffen, damit die Lieferkette für die neueste Generation russischer "Gleitbomben" zurückverfolgen zu können, die die Ostukraine momentan verwüsten. Die aus der Sowjetära stammenden Bomben wurden billig mit importierter Elektronik nachgerüstet, so dass sie von weit entfernten russischen Kampfflugzeugen auf die Ukraine abgeschossen werden können.

Spartak Borysenko von der Staatsanwaltschaft in Charkiw zeigt Teile einer Gleitbombe, die im Epicenter-Einkaufskomplex in Charkiw gefunden wurde, 7. Juni 2024.Evgeniy Maloletka/Copyright 2024 The AP. All rights reserved.

Zu den weiteren Städten, die durch diese Waffen verwüstet wurden, gehören Awdijiwka und Tschassiw Jar in der Region Donezk und Wowtschansk in der Region Charkiw.

Russland verfügt über einen nahezu unbegrenzten Vorrat an diesen Bomben, die von Flugplätzen jenseits der Grenze abgeschossen werden, welche die Ukraine nicht anvisieren konnte.

Sie wollen den Menschen Angst einjagen, aber das wird ihnen nicht gelingen.

Filialleiter Oleksandr Lutsenko sagte, der Angriff vom 25. Mai lasse erahnen, was Russland mit Charkiw vorhabe: "Ihr Ziel ist es, die Stadt in eine Geisterstadt zu verwandeln, so dass niemand mehr dort bleibt, dass es nichts mehr zu verteidigen gibt, dass es keinen Sinn mehr macht, die Stadt zu verteidigen. Sie wollen den Menschen Angst einjagen, aber das wird ihnen nicht gelingen."

Beschädigte Schuhe stehen in den Regalen des zerstörten Epicenter-Einkaufskomplexes in Charkiw, Ukraine, Donnerstag, 6. Juni 2024.Evgeniy Maloletka/Copyright 2024 The AP. All rights reserved.

Laut einer Analyse von Drohnenaufnahmen, Satellitenbildern, ukrainischen Dokumenten und russischen Fotos durch die Nachrichtenagentur Associated Press hat Russland die Zerstörung der ukrainischen Frontstädte im Jahr 2024 in einem bisher nicht gekannten Ausmaß vorangetrieben und dabei Gleitbomben und ein wachsendes Netz von Flugplätzen eingesetzt.

Feuerwehrleute löschen ein Feuer, nachdem zwei russische Bomben den Epicenter-Einkaufskomplex in Charkiw getroffen haben, Samstag, 25. Mai 2024. Andrii Marienko/Copyright 2024 The AP. All rights reserved

Die Nähe zu russischen Flugplätzen macht Teile der Ukraine anfällig für Gleitbombenangriffe

Indes nimmt die Intensität der jüngsten russischen Angriffe zu. Bei russischen Angriffen auf die Ukraine am Mittwoch wurden mindestens vier Menschen getötet und 14 weitere verletzt, wie The Kiyv Independent unter Berufung auf regionale Behörden mitteilte.

Russland griff insgesamt 13 ukrainische Regionen an: Tschernihiw, Mykolajiw, Luhansk, Lemberg, Winnyzia, Kirow, Saporischschja, Sumy, Cherson, Dnipropetrowsk, Charkiw und Donezk. In den vier letztgenannten Regionen wurden Opfer gemeldet.

In der Region Donezk wurden die Bezirke Pokrowsk, Bachmut und Kramatorsk von den russischen Streitkräften angegriffen, wie Gouverneur Wadym Filashkin mitteilte.

Bei russischen Angriffen auf die Region Cherson wurden 14 Gebäude, zwei Hochhäuser, eine Rohrleitung, ein Bauernhof und das Gelände eines Einkaufszentrums beschädigt, sagte Gouverneur Oleksandr Prokudin. In den vergangenen Tagen seien in der Region eine Person getötet und drei weitere verletzt worden, so Prokudin.

Russland wirft Bomben routinemäßig ab

Zunächst nahm Russland Anlauf. Es dauerte ein Jahr, bis Moskau Bachmut in der Region Donezk zerstörte. Dort wurden die Gleitbomben zuerst eingesetzt. Danach folgte die monatelange Zerstörung in Awdijiwka. Für die Zerstörung von Wowtschansk und Tschasiw Jar wurden nur Wochen benötigt, wie von AP analysierte Bilder mit den Ruinen beider Städte zeigen.

Borysenko von der Staatsanwaltschaft in Charkiw zeigt Teile einer Gleitbombe, die im Epicenter-Einkaufskomplex in Charkiw gefunden wurde, Freitag, 7. Juni 2024. Evgeniy Maloletka/Copyright 2024 The AP. All rights reserved.

Jetzt legt Russland wieder Hand an und wirft die Bomben routinemäßig von mehreren Stützpunkten direkt innerhalb der russischen Grenzen ab, von einer Landebahn, die weniger als 100 Kilometer von der Ukraine entfernt ist, zeigt eine AP-Analyse von Satellitenbildern und Fotos.

Dieses Satellitenbild von Planet Labs zeigt einen neu errichteten Flugplatz in der Oblast Belgorod, Russland, im Juni 2024.AP/AP

Bei dem Bombenanschlag auf das Epicenter in Charkiw wurden 19 Menschen getötet, darunter zwei Kinder. Insgesamt wurde die Stadt in diesem Jahr mehr als 50 Mal von Gleitbomben getroffen, so Spartak Borysenko von der regionalen Staatsanwaltschaft in Charkiw.

Er zeigte der Nachrichtenagentur AP Untersuchungsdokumente, in denen mindestens acht russische Luftwaffenstützpunkte genannt werden, die für die Angriffe genutzt wurden und die sich alle in einem Umkreis von 100 Kilometern um die Ukraine befinden. Er sagte, mindestens eine der Munitionen habe ausländische Elektronik und sei im Mai hergestellt worden. Dieses Datum deutet darauf hin, dass Russland die Bomben schnell eingesetzt und die Sanktionen für Güter mit doppeltem Verwendungszweck erfolgreich umgangen hat.

Fotos auf russischen Telegram-Kanälen, die mit dem Militär in Verbindung stehen, zeigen den Abwurf von drei oder vier Gleitbomben auf einmal. Bei einem Abwurf von vier Bomben verfolgte die AP den Standort des Flugzeugs bis kurz vor die russische Grenzstadt Belgorod, in der Nähe des im Bau befindlichen Luftwaffenstützpunkts. Alle vier Bomben auf dem Foto flogen in Richtung Westen - mit Wowtschansk und Charkiw in ihrer direkten Schusslinie.

Jeden Monat wirft Russland über 3.000 Bomben über ukrainischen Gebieten ab, so Selenskyj

Ende Mai erklärte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, Russland werfe jeden Monat mehr als 3.000 dieser Bomben ab, allein 3.200 davon im Mai.

Oleh Katkow, dessen Website "Defense Express" den Abschussort zuerst ausfindig machte, sagte, dass das zielgerichtete Treffen von russischen Luftwaffenstützpunkten der Schlüssel zur Verlangsamung der Bombardierungen sei, da es die russischen Flugzeuge zwinge, aus größerer Entfernung zu starten.

"Das bedeutet nicht, dass sie ihre Bombardierungen völlig einstellen werden, aber es wird schwieriger für sie", sagte Katkow. "Sie werden weniger Einsätze pro Tag machen können."

Die Ukraine darf westliche Waffen nur gegen einige festgelegte Gebiete in Russland einsetzen

Monatelang beschwerten sich ukrainische Beamte über die Beschränkungen beim Einsatz westlicher Waffen gegen Ziele in Russland, einschließlich der Flugplätze, auf denen russische Bomber stationiert sind. Die USA und Deutschland haben vor Kurzem einige Ziele in Russland genehmigt, aber viele andere bleiben tabu.

Der neueste Flugplatz in der Nähe von Belgorod hat eine 2.000 Meter lange Start- und Landebahn, so die AP-Analyse. Der Bau begann im Spätsommer 2023, während der gescheiterten ukrainischen Gegenoffensive.

Dieses Satellitenbild von Planet Labs zeigt ein Feld in der Oblast Belgorod, Russland, im August 2023. AP/AP

Aus Kreisen des ukrainischen Geheimdienstes verlautete, dass die ukrainische Regierung den Bau genau verfolgt habe, der auf einem Foto von Mitte Juni noch nicht fertiggestellt schien.

Der Beamte wies auch darauf hin, dass Belarus als Zufluchtsort für russische Bomber dient. Eine von der ukrainischen Website DeepState erstellte Karte für Schlachtfeldanalysen zeigte zehn Flugplätze in Belarus, darunter fünf direkt an der Grenze zur Ukraine.

Insgesamt zeigt die DeepState-Karte 51 von Russland genutzte Stützpunkte in einem Umkreis von 600 Kilometern um ukrainisch kontrolliertes Gebiet, darunter drei in der besetzten Ostukraine, sechs auf der illegal annektierten Halbinsel Krim und 32 in Russland.

Das ist der Raketen- und Bombenterror, der den russischen Truppen hilft, auf dem Boden vorzurücken.

"Der größte strategische Vorteil, den Russland gegenüber der Ukraine hat, ist sein Vorteil im Luftraum", sagte Selenskyj letzte Woche. "Das ist der Raketen- und Bombenterror, der den russischen Truppen hilft, auf dem Boden vorzurücken."

Russland werfe täglich bis zu 100 Lenkbomben ab, so Selenskyj. Neben Raketen und Drohnen, die Russland bereits routinemäßig für Angriffe einsetzt, verursachen die Bomben "einen wahnsinnigen Zerstörungsdruck".

Das Ausgangsmaterial für die Bomben stammt aus der Sowjetära

Das Ausgangsmaterial für die Gleitbomben stammt von hunderttausenden Bomben aus der Sowjetära, die dann mit einziehbaren Flossen und Lenksystemen nachgerüstet werden, um 500 bis 3.000 Kilogramm Sprengstoff zu tragen. Die Nachrüstung kostet nach Angaben des Center for European Policy Analysis rund 20.000 US-Dollar pro Bombe. Die Bomben können bis zu 65 Kilometer von ihren Zielen entfernt abgeschossen werden - außerhalb der Reichweite der regulären ukrainischen Luftabwehrsysteme.

Die Bomben ähneln vom Konzept her den amerikanischen JDAM-Raketen (Joint Direct Attack Munition), deren GPS-Systeme von den russischen Streitkräften in der Ukraine erfolgreich gestört wurden.

Russland bombardiert aus der Luft und rückt dann auf dem Boden vor

Da Russland nicht über die Kraft verfügt, ostukrainische Städte wie Charkiw zu besetzen, ist die Bombardierung die bevorzugte Option, so Nico Lange, Analyst am Center for European Policy Analysis.

"Aus ihrer Sicht scheint die Strategie darin zu bestehen, die Städte so zu terrorisieren, dass die Menschen abwandern", so Lange.

Ich werde in Charkiw bleiben. Das ist meine Heimat.

Zurück im Epicenter-Einkaufszentrum zeigten Überwachungsaufnahmen, die kurz vor der Explosion gemacht wurden, wie die Verkäuferin Nina Korsunova über den Boden in Richtung des Ganges ging, den sie an diesem Tag betreute. Dann gab es einen grellen Blitz, und die Kamera schaltete sich aus.

Verkäuferin Nina Korsunova wird emotional, als sie am Donnerstag, den 6. Juni 2024, durch den zerstörten Epicenter-Einkaufskomplex in Charkiw geht.Evgeniy Maloletka/Copyright 2024 The AP. All rights reserved.

Korsunova krümmte sich zusammen, als etwas auf sie herabstürzte. Sie öffnete gerade noch rechtzeitig die Augen, um zu sehen, wie die zweite Bombe einschlug. Mit geplatztem Trommelfell konnte sie nichts mehr hören.

"Ich dachte, ich sei allein und sie hätten mich dort zurückgelassen", sagte sie. Sie kroch über Stapel von zerbrochenen Lampen. Kabel schlangen sich um ihre Beine, als sie durch die Trümmer des Gangs kletterte.

Zwei Wochen später stank der übrig gebliebene Skelettbau des Einkaufszentrums nach einer verwirrenden Mischung aus verbranntem Metall und Waschmittel, das aus geschmolzenen Kanistern im Gang für Reinigungsmittel ausgelaufen war.

Trotz des schrecklichen Vorfalls haben weder Korsunova noch der Filialleiter Pläne, ihre Heimatstadt zu verlassen.

"Es hat mich nicht gebrochen", sagte sie. "Ich werde in Charkiw bleiben. Das ist meine Heimat."

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