EM 2024: Cristiano Ronaldo zwischen Held und Ballast – die Debatte reißt nicht ab

Cristiano Ronaldo spielt aktuell seine sechste EM-Endrunde.

Vier kerzengerade Schritte nach hinten, ein Ausfallschritt zur Seite, noch einmal kräftig durchatmen. Der Ablauf ist seit Jahrzehnten derselbe, auch an diesem verregneten Abend in Leipzig. Pistolero Cristiano Ronaldo steht in seiner berühmten Pose bereit, streicht sich ein letztes Mal durchs gegelte Haar. Dann läuft er an, zieht mit dem Spann durch ... und befördert die Kugel direkt in die Arme von Tschechiens Schlussmann Jindřich Staněk.

Es ist eine Szene mit Symbolcharakter, denn irgendwie ist alles so, wie es schon vor 15 oder 20 Jahren war. Irgendwo ist es das aber auch nicht.

Seit gut zwei Jahrzehnten feuert CR7, der mit Portugal aktuell seine sechste EM-Endrunde bestreitet, Freistöße auf die immergleiche Art in Richtung Tor, entwickelte sich so schnell zu einem gefürchteten Distanzschützen. Der Ablauf, die Inszenierung bei jedem ruhenden Ball, ist geblieben. Die Gefahr aber strahlt er nicht mehr aus.

Cristiano Ronaldo steht zur Ausführung eines Freistoßes bereit.

Und das gilt nicht nur für die Standards, bei denen Cristiano Ronaldo schon an Präzision verloren hatte, als er noch für Real Madrid aufgelaufen ist. Dem 39-Jährigen ist sein Alter mittlerweile anzumerken, ein Vorwurf ist das freilich nicht. Die Explosivität vergangener Tage besitzt der Superstar nicht mehr, vor dem Tor lässt er deutlich mehr liegen als noch zu seinen besten Zeiten.

Santos setzte CR7 auf die Bank und musste anschließend gehen

Darüber kann auch seine Ausbeute in der maximal zweitklassigen saudischen Liga nicht hinwegtäuschen, 35 Tore waren es zuletzt in 31 Spielen. Nicht grundlos verließ er Europa im Dezember 2022. Im selben Monat hatte auch Portugals damaliger Nationaltrainer Fernando Santos erkannt, dass sein Team ohne den Superstar besser aufgestellt ist.

Zum WM-Achtelfinale ersetzte der Coach CR7 durch den jüngeren, laufstärkeren und uneigennützigeren Gonçalo Ramos. Die Seleção dankte es ihm mit ihrer besten WM-Leistung, schoss die Schweiz mit 6:1 aus dem Stadion. Ramos traf dabei dreifach.

Im Viertelfinale musste Portugal dennoch die Segel streichen, der Verband trennte sich bei der Gelegenheit auch von seinem Nationaltrainer und ersetzte ihn durch Roberto Martínez. Der bekannte sich gleich zu Beginn seiner Amtszeit zu Cristiano Ronaldo.

"Cristiano ist ein sehr wichtiger Spieler und ein sehr wichtiger Kapitän für uns. Er spielt nach wie vor auf einem Toplevel, und er ist sehr wichtig für unsere jungen Spieler dank seiner Erfahrung. Er hilft ihnen ständig weiter", sagte der Spanier kürzlich.

Cristiano Ronaldo hat nicht an Strahlkraft verloren

Vor dem Auftaktspiel der Seleção bei dieser EM äußern sich Fans ganz ähnlich. Fernando, der aus Porto mit Frau und Schwager angereist ist, betont im Gespräch mit watson immer wieder, wie gut Ronaldo als Führungspersönlichkeit sei. "Er ist ein echter Kapitän", erklärt er, den Zeigefinger in den Tisch einer portugiesischen Tapasbar bohrend.

Hier, gut 15 Minuten vom Leipziger Stadion entfernt, lässt sich bereits Stunden vor dem Anpfiff erahnen, wem zahlreiche Fans die Daumen drücken. Portugal, na klar. Aber eben vor allem auch CR7. Kein Trikot ist an diesem Dienstag so präsent wie keines. Es sind Portugal-Trikots, aber auch Trikots von den (Ex-)Klubs des Superstars: Sporting, Manchester United, Real Madrid, Juventus Turin, selbst al-Nassr ist dabei. Hauptsache Ronaldo auf dem Rücken.

Der Personenkult ist freilich nichts Neues, in Deutschland war er etwa auch schon bei der Ankunft der Seleção zu spüren. Gut 6000 Menschen empfingen das Team in Harsewinkel, rund 8000 waren es kurz darauf beim Training in Gütersloh. Der Wahnsinn in der Walachei.

"Er ist immer noch Ronaldo", erklärt Fan Fernando und meint dabei einerseits den Hype, andererseits aber auch die Daseinsberechtigung in der Startelf. "Auch wenn er nicht mehr so gut ist wie früher."

Der Fan hält inne, nippt einmal kurz an seinem Bier. Kritik am Nationalhelden darf nicht einfach so im Raum stehen bleiben, also schiebt Fernando hinterher: "Gonçalo Ramos kannst du ihm nicht vorziehen, der ist nur ein normaler Spieler."

Portugals Spiel mit Ronaldo in der Spitze ist ausrechenbar

Der PSG-Stürmer wäre nicht die einzige Option. Mit João Félix oder Diogo Jota stünden weitere Stars bereit, die ein fluideres Offensivspiel versprechen. In der Partie gegen die Tschechen drängt sich der Eindruck auf, dass sie besser ins Team passen würden. Denn im Aufbau sowie im Mittelfeld ist Portugals Spiel von einer enormen Variabilität geprägt, Positionen werden permanent getauscht.

Im letzten Drittel, wo CR7 auf die Zuspiele seiner Kollegen wartet, gilt dies nicht mehr. Hier suchen sämtliche Offensivspieler, ob nun Rafael Leao von links flankend, Bernardo Silva von rechts chippend oder Bruno Fernandes durch die Mitte steckend, fast immer den finalen Pass auf Ronaldo.

So sehr sich die Tschechen auch hinten einschnüren lassen, in letzter Konsequenz können sie somit praktisch jeden Angriff verteidigen. Nur zweimal gewähren sie dem Superstar an diesem Abend etwas zu viel Platz, beide Male scheitert er mit seinem Abschluss, beide Male steht er zudem im Abseits.

Portugal gewinnt am Ende trotzdem mit 2:1, bezeichnenderweise durch ein Eigentor sowie einen Treffer von Francisco Conceição. Cristiano Ronaldo hat seine Füße nicht mit im Spiel. Kritische Stimmen wie etwa die von Frank Leboeuf, dem früheren französischen Nationalspieler, lässt er so nicht verstummen. Portugal sei einer der Titelfavoriten, "aber nur, wenn Ronaldo nicht spielt", sagt der Welt- und Europameister.

"Cristiano muss immer spielen", halten Luis und Luz, beide nicht nur mit einem Trikot, sondern auch mit einer CR7-Maske ausgestattet, im Gespräch mit watson dagegen.

Das Paar ist aus Mexiko angereist, um das gemeinsame Idol zu sehen. "Endlich klappt es", berichtet Luis. Zweimal schon sei er beim Versuch gescheitert, den Superstar in Aktion zu sehen. Beim ersten Mal wurde die Partie verlegt, beim zweiten Mal ist CR7 nach Saudi-Arabien gewechselt.

Manche Fans tragen zusätzlich zum Trikot auch noch eine CR7-Maske.

"Die Diskussionen haben wir auch mitbekommen, aber er ist immer noch gut genug", ist Luis überzeugt. "Cristiano hat sich den Titel verdient", denkt seine Freundin sogar schon einen Schritt weiter.

Wie lange spielt Ronaldo noch für Portugal?

Vielleicht sogar als Abschiedsgeschenk in der Nationalmannschaft? Es ist noch so ein Thema rund um Cristiano Ronaldo, über das fleißig diskutiert wird. "Ich werde die Seleção nie aufgeben und habe noch viel zu geben", sagt CR7 selbst über seine Zukunft. Laut Martínez peile der Superstar 250 Länderspiele an, 42 Partien fehlen bis dahin noch.

Beim Spiel gegen Tschechien gibt es aber auch Anzeichen auf eine Abschiedstournee, wie ein portugiesischer Journalist auf der Pressetribüne analysiert. So deutet er jedenfalls, dass Ronaldo beim Warmmachen mit den Fans interagiert, diese auffordert, Alarm zu machen. Normalerweise sei CR7 zu dieser Zeit im Tunnel, komplett fokussiert.

Cristiano Ronaldo gestikulierte vor Anpfiff in Richtung der Fans.

Die Fans hoffen Gegenteiliges. Und doch schwingt in jedem lautstarken "Siu", wenn Ronaldo beim Warm-up ins Tor trifft, bei jedem Raunen, wenn der Superstar am Ball ist, eine gewisse Portion Wehmut mit. Es könnte ja wirklich das letzte Mal sein, dass man den Superstar, den Helden einer ganzen Generation, als Aktiven zu Gesicht bekommt.

"Wenn er 50 ist, wird Ronaldo in der Nationalelf immer noch eine Rolle spielen", meint João Palhinha. Mit 39 Jahren erlebt der Routinier in jedem Fall noch immer erste Male. Gegen Tschechien lief er erstmals in einem Pflichtspiel in Leipzig auf. Das Berliner Olympiastadion, Austragungsort des EM-Finales am 14. Juli, fehlt ihm auf seiner Bingokarte noch.An Motivation, das ist klar, mangelt es dem verbissenen Cristiano Ronaldo dieser Tage also nicht. Das hat es nie.