EM 2024: Reiner Calmund warnt das DFB-Team – "Wir sollten uns da nicht so wichtigtun"

Ex-Fußball-Funktionär Reiner Calmund wurde als Manager und Geschäftsführer von Bayer Leverkusen bekannt.

Gegenfragen von Gesprächspartner:innen sind bei Journalist:innen nicht besonders beliebt. Vor allem, wenn es rhetorische Fragen sind.

Genau so eine stellt Reiner Calmund im watson-Interview gleich zu Anfang als Antwort auf die Frage, was das Problem beim Spiel gegen die Schweiz gewesen sein könnte.

"Was für ein Problem?", will er wissen. Und macht damit direkt ganz deutlich: Er ist entspannt, was die bisherige Leistung der Nationalmannschaft bei der EM angeht. Natürlich lässt sich Calli dann aber doch noch hinreißen zu einer Analyse der Gruppenphase sowie des aktuell größten Problems der Mannschaft – und auch zu einer gewagten Prognose, wie die Europameisterschaft ausgehen könnte.

Watson: Wie ist Ihr Puls nach dem 1:1 gegen die Schweiz?

Reiner Calmund: Mein Puls ist okay! Das ist doch normal, dass es bei einer EM nicht nur positive Ereignisse geben kann. Man ist dann oft nervös und braucht ein bisschen Zeit, um alles zu verdauen. Aber wir haben die Gruppenphase ungeschlagen als Erster überstanden. Das sollte man nicht vergessen.

Was war denn das Problem gestern?

Was für ein Problem?

Die deutsche Mannschaft hat nur in letzter Minute das 1:1 geschafft. Viele hatten mehr erwartet. Sie nicht?

Wir haben doppelt so viele Pässe gespielt wie die Schweiz, hatten 9:2 Eckbälle und sogar 18:4 Torschüsse. Wenn es nach den reinen Zahlen gehen würde, hätten wir klar gewinnen müssen. Trotzdem ist es gerecht, dass das Spiel 1:1 ausgegangen ist. Fußball ist kein Eiskunstlauf, da geht es um Tore. Die Schweizer hätten mindestens noch ein Tor schießen können. Wir hätten aber auch drei bis vier weitere schießen können. Haben wir aber nicht gemacht. Also ist es 1:1 ausgegangen, womit unsere Nationalmannschaft ihre Zielsetzung in der Vorrunde erreicht hat.

Aber woran liegt es denn?

Das war früher vielleicht so, dass es bei großen Turnieren klare Favoriten gab, gegen die man in der Regel nicht viel ausrichten konnte. Die Zeiten sind aber vorbei. Das ist jetzt ein neuer Fußball. Und das ist doch auch gut so, dass sich der Sport immer weiter entwickelt.

"Ich bin immer dafür, unserem Gegner gegenüber respektvoll zu sein und nicht großspurig aufzutreten. Wir sollten uns da nicht so wichtigtun."

Sie wirken entspannter als die meisten deutschen Fans.

Ich bin bei den Spielen grundsätzlich angespannt, weil alles passieren kann. Ansonsten analysiere ich sachlich die Leistungen unserer Mannschaft – und dabei gibt es nicht viel zu meckern. Und vor allem bin ich mit dem bisherigen Turnierverlauf zufrieden.

Sie meinen die EM-Stimmung?

Die Stadien sind ausverkauft, es gibt riesengroße Public Viewings, wo Menschen aus ganz Europa beteiligt sind und zu Zehntausende auch ohne Eintrittskarte ins EM-Land nach Deutschland kommen. Die Stimmung ist gut, alle feiern zusammen. In diesem Punkt ist uns die EM bisher genauso gut gelungen wie die WM 2006, als wir gesagt haben "Die Welt zu Gast bei Freunden".

Reiner Calmund im Olympiastadion beim DFB-Pokal-Finale des 1. FC Kaiserslautern gegen Bayer 04 Leverkusen.

Haben die Fans von der Nationalmannschaft zu viel erwartet?

Ich bin immer dafür, unserem Gegner gegenüber respektvoll zu sein und nicht großspurig aufzutreten. Wir sollten uns da nicht so wichtigtun. Mit der Haltung "Wir sind die Größten" kann das eigentlich nur schiefgehen.

Das größte Problem der Nationalmannschaft ist aktuell die Innenverteidigung. Rüdiger ist wohl länger angeschlagen, Tah ist gesperrt. Bereitet Ihnen das Sorgen?

Das ist im Fußball so. Da werden hin und wieder Gelbe Karten verteilt und es gibt auch immer wieder Verletzte. Das kann man nicht verhindern. Da muss Nagelsmann jetzt gucken, was er macht. Aber da wird er schon die richtige Lösung finden. Wir hatten bisher in der Aufstellung eine gute Konstanz und Beständigkeit. Aber dass man ein Turnier nicht in jedem Spiel mit der gleichen Mannschaft bestreiten kann, ist auch klar. Wir haben genug Möglichkeiten neben Rüdiger und Tah. Waldemar Anton aus Stuttgart und Nico Schlotterbeck aus Dortmund sind beide sehr gute Alternativen.

"Das ist doch völlig egal, ob einer schwarz, weiß oder gelb ist. Entscheidend ist nur, wie er spielt."

Welcher deutsche Spieler ist für Sie bisher besonders rausgestochen?

Was mir sehr gut gefallen hat, ist die mannschaftliche Geschlossenheit. Dazu Bundestrainer Julian Nagelsmann mit dem gesamten Trainerteam, mit Rudi Völler als Sportdirektor, sowie alle Mediziner und Betreuer. Das macht insgesamt einen ruhigen, sehr guten Eindruck, auf dem man aufbauen kann.

Gab es für Sie eine Überraschung beim Turnier?

Ja, dass vor dem Turnier wieder über die Hautfarbe von Spielern gesprochen wurde, hat mich überrascht. Durch die Entwicklung in der Bevölkerung gibt es auch innerhalb der einzelnen Nationalmannschaften immer mehr Internationalität. Das ist doch völlig egal, ob einer schwarz, weiß oder gelb ist. Entscheidend ist nur, wie er spielt. Das betrifft mich auch persönlich. Unsere Tochter haben wir aus Asien adoptiert, in ihrer Klasse haben über die Hälfte einen Migrationshintergrund. Sie fühlt sich in Deutschland sauwohl und zu Hause. Ich liebe sie über alles. Darauf kommt es an.

Meldung

Als Frankreich 1998 Weltmeister wurde, war das auch schon Thema.

Es ist ja bekannt, dass Frankreich mit den internationalen Spitzenspielern Desailly, Thuram, Karembeu, Vieira, Henry und Zinédine Zidane, der allerdings als jüngstes Kind einer algerischen Einwanderer-Familie in Marseille geboren wurde, die WM 1998 in Paris gewonnen hat.

Worauf muss sich die Nationalelf jetzt konzentrieren?

Die Mannschaft hat einen guten Teamgeist. Der wird ihr auch in den nächsten Spielen helfen. Ansonsten brauchen wir nur noch ein bisschen Glück.

Wer wird Ihrer Meinung nach Europameister?

Ich habe drei Favoriten. Deutschland natürlich, da zählt sicherlich auch das Heimrecht mit rein. Spanien, die haben wirklich sehr gute Spieler in der Mannschaft. Und Frankreich, wobei mich das Team bisher noch nicht überzeugt hat und jetzt durch den Nasenbruch von Mbappé zusätzlich gehandicapt ist. Wir werden sehen, was passiert. Sicher ist nichts, es kann immer wieder Überraschungen geben, aber genau das macht das Turnier ja so spannend.