Migration: So werden Migranten auf dem deutschen Arbeitsmarkt ausgebeutet

Arbeitsmigranten in Deutschland

"Ohne sie würde die Wirtschaft kollabieren"

Saisonarbeiter stechen Spargel auf einem Feld: Viele von ihnen arbeiten unter schlechten Bedingungen. (Quelle: Paul Zinken/dpa/Archivbild/dpa)

Saisonarbeiter stechen Spargel auf einem Feld: Viele von ihnen arbeiten unter schlechten Bedingungen. (Quelle: Paul Zinken/dpa/Archivbild/dpa)

Als Reinigungskräfte oder Feldarbeiter: Migranten erledigen oft Jobs, die die meisten Menschen nicht machen wollen – und werden in vielen Fällen ausgebeutet. Das muss sich ändern, meint Sascha Lübbe, denn ohne sie könnte die Wirtschaft zusammenbrechen.

Im vergangenen Jahr haben 50.000 Migrantinnen und Migranten kurzfristig auf deutschen Feldern gearbeitet, um etwa Spargel zu stechen oder Erdbeeren zu pflücken. Eine Arbeit, die körperlich hart ist und schlecht bezahlt wird. Deutsche erledigen sie in der Regel nicht, die Arbeitskräfte kommen aus dem Ausland. Experte und Buchautor Sascha Lübbe sagt: Diese Menschen werden in Deutschland ausgebeutet.

Egal, ob im Fleischbetrieb als Reinigungskraft oder auf dem Bau, die Arbeiterinnen und Arbeiter treffen beinahe überall auf schlechte Arbeitsbedingungen. Den Grund sieht Lübbe im System: Oft sind die Arbeiter bei Subunternehmen angestellt, die teils kriminell organisiert sind. Was sich für Migrantinnen und Migranten auf dem deutschen Arbeitsmarkt ändern muss und wo Lübbe kriminelle Tendenzen sieht, berichtet er im Interview mit t-online.

t-online: Herr Lübbe, während der Pandemie wurden die schlechten Arbeitsbedingungen ausländischer Beschäftigter, etwa in den Schlachthöfen, kritisiert. Wie hat sich die Situation seither verändert?

Sascha Lübbe: Das ist je nach Branche verschieden. Das Grundproblem ist: In vielen Branchen existiert ein System, in dem große Unternehmen die Arbeit an kleine, mitunter kriminelle Subunternehmen auslagern. Bei diesen Firmen müssen die Migranten teils deutlich länger arbeiten als erlaubt. Sie zahlen ihnen kein Urlaubsgeld, kein Geld im Krankheitsfall. In der Fleischwirtschaft ist man gegen den Kern dieses Problems vorgegangen. Seit 2021 gilt dort das Arbeitsschutzkontrollgesetz. Es legt fest, dass große Unternehmen die Arbeiterinnen und Arbeiter fest bei sich anstellen müssen, statt sie über Subunternehmen zu beschäftigen. Ein wichtiger Schritt.

Was hat sich dadurch für die Arbeitnehmer verändert? Das Gesetz gilt ja nicht für alle Bereiche der Branche.

Zuvor haben die Menschen in der Fleischbranche teils zwölf bis 16 Stunden am Tag gearbeitet. Jetzt müssen die Firmen die Arbeitszeiten digital festhalten, diese extremen Überstunden gibt es seitdem nicht mehr. Man hat mit Einführung des Gesetzes allerdings suggeriert, die Subunternehmen hätten jetzt keine Macht mehr. Das stimmt nicht. Die Subunternehmen sind im Hintergrund immer noch aktiv. Die Arbeiter und Arbeiterinnen sind zwar nicht mehr bei ihnen angestellt. Die Subunternehmen rekrutieren aber weiterhin Personal im Ausland und kümmern sich in Deutschland um die Unterbringung der Menschen.

Zudem gilt das Gesetz nicht für alle Bereiche in der Branche. Das stimmt. Es gilt nur für den Kernbereich – also für das Schlachten, Zerlegen und Verarbeiten des Fleisches. Bei anderen Arbeiten, die in einem Schlachthof anfallen, etwa das Reinigen der Maschinen, sind die Beschäftigten weiterhin über Subunternehmen angestellt. Da gibt es nach wie vor große Probleme.

Zur Person

Sascha Lübbe ist Journalist und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Migration und ausländischen Arbeitern in Deutschland. Für sein Buch "Ganz unten im System" hat er mit Angestellten verschiedener Branchen gesprochen und die Unterkünfte von Saisonarbeitern besucht.

(Quelle: Jacobia Dahm)

(Quelle: Jacobia Dahm)

Wie sieht es bei Saisonkräften aus, die aktuell auf deutschen Spargel- und Erdbeerfeldern arbeiten?

Sie stehen in einem großen Abhängigkeitsverhältnis zu ihrem Arbeitgeber, denn der stellt meist auch die Unterkunft. Ein weiteres Problem ist, dass sie ihr Gehalt in der Regel erst am Ende der Saison bekommen, mit teils unrechtmäßigen Abzügen für Werkzeuge oder Kleidung. Viele schaffen es dann vor ihrer Abreise nicht mehr, sich zu beschweren oder den vollen Lohn einzufordern.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass ohne Arbeitsmigranten in Deutschland fast gar nichts mehr geht. Warum das?

Arbeitsmigrantinnen und -migranten sind für Deutschland elementar. Man kann sagen, dass ohne sie Teile der deutschen Wirtschaft kollabieren würden. Diese Menschen arbeiten in allen Bereichen. Im akademischen Bereich, als Fachkräfte, aber eben auch in Jobs, für die man keine Ausbildung braucht. Als Erntehelfer zum Beispiel, als Reinigungskraft oder Paketbote. In Deutschland findet sich kaum jemand, der diese Jobs machen will. Daher gehören ausländische Beschäftigte zum Fundament unserer Wirtschaft.

Was sollte sich ändern und warum?

Eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen dieser Menschen muss nicht nur aus humanitären Gründen Priorität haben, sie ist auf lange Sicht auch im Interesse der Wirtschaft. Natürlich bedeutet das für die Unternehmen zunächst Mehrkosten. Auf Dauer wird die derzeitige Situation für sie aber vermutlich zum Problem.

Wieso?

In Branchen mit einem hohen Anteil an Migranten sehen wir eine überdurchschnittlich hohe Fluktuation. Zum Beispiel in der Fleischbranche: Die meisten Menschen halten an den Fließbändern nicht einmal ein Jahr durch, dann wechseln sie den Betrieb oder gleich die Branche. Es entsteht also ständig neuer Bedarf an Arbeitskräften.

Gleichzeitig sinkt die Zahl osteuropäischer Migranten, die diese und viele andere Branchen im Niedriglohnsektor dominieren, seit Jahren. In einigen Branchen ist man dazu übergegangen, Menschen aus Drittstaaten zu rekrutieren, aus Ländern, in denen die Löhne noch niedriger sind. In der Transportbranche zum Beispiel. Da gibt es viele polnische Speditionen auf dem Markt. Da es in Polen aber mittlerweile schwer ist, einheimische Fahrer zu finden, beschäftigt man inzwischen vermehrt Fahrer aus Zentralasien.

Das Problem wird also von Land zu Land weitergereicht.

Ja. In Deutschland ist das allerdings noch kein Massenphänomen. Dafür sind die Auflagen für Drittstaatler, hier zu arbeiten, zu hoch. Zudem gäbe es einen anderen, besseren Weg, gegen die hohe Fluktuation anzugehen: Indem man schaut, dass man die Arbeitsbedingungen verbessert und damit dafür sorgt, dass die Menschen länger in ihren Jobs bleiben.

Oft wird argumentiert, dass Migranten aus ärmeren Ländern zwar in Deutschland wenig verdienen. Das aber sei trotzdem viel mehr Geld, als sie in ihren Heimatländern bekommen könnten, heißt es.

Das ist das klassische Argument vieler Arbeitgeber in diesen Branchen. Aber es ändert nichts daran, dass es Gesetze in diesem Land gibt, an die man sich halten muss. Das Mindestlohngesetz zum Beispiel, das Arbeitszeitgesetz. Es kann nicht sein, dass Menschen in Deutschland ausgebeutet werden, nur weil sie in ihrer Heimat weniger verdienen. Das ist keine Rechtfertigung.

Warum lassen sich die Arbeiterinnen und Arbeiter überhaupt darauf ein?

Sie sind verzweifelt. Viele kommen aus Gegenden, in denen es keine Jobs gibt und wenn, dann sind sie deutlich schlechter bezahlt. Den meisten geht es auch nicht um sich, sondern um die Familie. Sie arbeiten hier, um beispielsweise das Studium der Kinder zu finanzieren. Im Rumänischen gibt es einen Begriff dafür: Generatia de sacrificiu. Die Generation, die sich für ihre Familie aufopfert.

Polizisten vor einer Wohnsiedlung von Tönnies-Mitarbeitern in Verl (Archivbild): Nach dem Corona-Ausbruch in der Fleischfabrik wurden die Arbeitsbedingungen in der Branche heftig diskutiert. (Quelle: Noah Wedel/imago-images-bilder)

Polizisten vor einer Wohnsiedlung von Tönnies-Mitarbeitern in Verl (Archivbild): Nach dem Corona-Ausbruch in der Fleischfabrik wurden die Arbeitsbedingungen in der Branche heftig diskutiert. (Quelle: Noah Wedel/imago-images-bilder)

Und die Arbeitgeber?

Die stehen unter enormem Kostendruck, das ist das Problem. Dahinter steht ein System. Nehmen Sie öffentliche Ausschreibungen, etwa im Wohnungsbau. Den Zuschlag bekommt häufig der günstigste Anbieter. Dieses Unternehmen macht die Arbeiten aber nicht selbst, sondern gibt sie – nachdem es einen Teil der Summe einbehalten hat – an ein Subunternehmen weiter. Dieses Unternehmen wiederum reicht die Arbeit an ein weiteres Subunternehmen weiter. So entsteht eine ganze Kette von Firmen, die beteiligt sind. Und an jedem Glied der Kette bleibt Geld hängen. Beim vierten oder fünften Glied – die Firma, die die Arbeiten tatsächlich ausführt – ist der Kostendruck dann oft so hoch, dass die Firmen auf illegale Mittel zurückgreifen. Sie bezahlen ihre Arbeiter schwarz oder beuten sie regelrecht aus.

Gibt es auch positive Beispiele?

In der Baubranche gibt es einzelne große Unternehmen, die stellen ausländische Beschäftigte inzwischen fest bei sich an, statt nur Subunternehmen zu beauftragen. Auf lange Sicht ergibt das auch wirtschaftlich Sinn: Sind die Menschen fest angestellt, werden vernünftig bezahlt, bekommen Urlaubsgeld und Krankengeld, dann sind sie motivierter und leisten auf lange Sicht bessere Arbeit.

Was müsste seitens der Politik passieren?

Das geplante Tariftreuegesetz auf Bundesebene ist ein guter Ansatz. Öffentliche Ausschreibungen des Bundes würden dann nur noch an Unternehmen gehen, die Tariflöhne zahlen. Ein weiterer Hebel wäre die Einführung des Verbandsklagerechts im Arbeitsrecht. Das würde es Gewerkschaften erlauben, Arbeitgeber zu verklagen, ohne dass die Arbeitnehmer direkt involviert sind. Die könnten anonym bleiben. Das würde die Hürden, juristisch gegen kriminelle Arbeitgeber vorzugehen, senken. Jetzt fürchten viele Migranten durch diesen Schritt noch, ihren Job, ihre Unterkunft, im Falle von Drittstaatlern sogar das Aufenthaltsrecht zu verlieren.

Herr Lübbe, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen:

  • Interview mit Sascha Lübbe

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