EU-Beitritt in Gefahr: Borrell prangert Georgiens "russisches Gesetz" an

Josep Borrell hat die Rücknahme des umstrittenen Gesetzestextes gefordert. ©European Union, 2024.

Josep Borrell hat am Mittwoch sein Schweigen gebrochen und die Verabschiedung des umstrittenen "russischen Gesetzes" in Georgien angeprangert. Am Dienstag war der Text in dritter und letzter Lesung bestätigt worden.

In einer gemeinsam mit der Europäischen Kommission unterzeichneten Erklärung erklärte Borrell, das Gesetz stehe im Widerspruch zu den EU-Beitrittsbestrebungen Georgiens und sollte in seiner Gesamtheit aufgehoben werden.

"Die Verabschiedung dieses Gesetzes wirkt sich negativ auf die Fortschritte Georgiens auf dem Weg zur EU aus. Die Entscheidung über den weiteren Weg liegt in Georgiens Händen", heißt es dort.

"Wir fordern die georgischen Behörden auf, das Gesetz zurückzuziehen, ihr Engagement für den EU-Weg aufrechtzuerhalten und die notwendigen Reformen voranzutreiben."

Die Erklärung enthält jedoch keine ausdrücklichen Repressalien oder Konsequenzen für den Beitrittsprozess, der im Dezember begann, nachdem Georgien zum EU-Beitrittskandidaten erklärt wurde.

"Die EU ist bereit, die Georgier bei ihren Bemühungen um eine europäische Zukunft weiterhin zu unterstützen", heißt es in der Erklärung.

Borrell wollte ursprünglich ein gemeinsames, von allen 27 EU-Mitgliedern unterzeichnetes Kommuniqué veröffentlichen, um das Gesetz direkt nach der Verabschiedung am Dienstagnachmittag zu verurteilen.

Diplomaten in Brüssel zufolge wurde der Plan jedoch von Ungarn und der Slowakei unterwandert, deren Ministerpräsidenten eine russlandfreundliche Politik verfolgen und sich gegen allzu kritische Äußerungen gegenüber dem Kreml und seinen internationalen Verbündeten sträuben.

"Einer hat sich hinter dem anderen versteckt", so ein Diplomat gegenüber Euronews.

Da keine Einstimmigkeit erzielt werden konnte, ging man dazu über, Borrell und Olivér Várhelyi, den EU-Kommissar für Erweiterung und Nachbarschaftspolitik, eine gemeinsame Erklärung abgeben zu lassen, wie bereits nach der zweiten Lesung des Gesetzestextes.

Dadurch kam es jedoch zu einer weiteren Verzögerung, da es Berichten zufolge zu Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden kam.

Letztendlich wurde die Antwort am Mittwoch um 11:00 Uhr veröffentlicht, fast 24 Stunden nach Abschluss der dritten Lesung. Anstelle von Várhelyi wurde sie von der gesamten Europäischen Kommission mitunterzeichnet.

Die verspätete Reaktion war angesichts der ernsten Lage und der schnellen Verurteilung durch die Vereinigten Staaten besonders auffällig. Die Tatsache, dass Borrell in den sozialen Medien Nachrichten über seine Reise nach Washington und den Krieg zwischen Israel und der Hamas teilte, trug zur Frustration über sein langes Schweigen bei.

"Die EU hat klar und wiederholt erklärt, dass der Geist und der Inhalt des Gesetzes nicht mit den grundlegenden Normen und Werten der EU übereinstimmen", heißt es in der Erklärung.

"Sie wird die Arbeit der Zivilgesellschaft und der unabhängigen Medien untergraben, während die Vereinigungsfreiheit und die freie Meinungsäußerung zu den Grundrechten gehören, die Georgien im Rahmen des Assoziierungsabkommens und auf dem Weg zum EU-Beitritt zugesagt hat."

In der Zwischenzeit sind die Außenminister von Litauen, Estland, Lettland und Island in Tiflis gelandet, um die Demonstrierenden zu unterstützen und sich mit Präsidentin Salome Surabischwili zu treffen, die angekündigt hat, ihr Veto gegen das Gesetz einzulegen.

"Das Gesetz über 'ausländische Agenten' ist nicht mit den EU-Standards vereinbar. Dieses Gesetz kann nicht repariert werden, weil es von Grund auf kaputt ist", sagte der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis.

"Inakzeptables" Vorgehen der Polizei

Das neue Gesetz sieht vor, dass Medien und gemeinnützige Organisationen, die mehr als 20% ihrer Gelder aus dem Ausland erhalten, als "ausländische Agenten" öffentlich registriert werden müssten, da sie "die Interessen einer ausländischen Macht verfolgen". Sie wären außerdem verpflichtet, die erhaltenen Einkünfte zu deklarieren und einen jährlichen Finanzbericht vorzulegen.

Das georgische Justizministerium soll ermächtigt werden, die Einhaltung der Verpflichtungen zu überwachen und bei Verstößen Geldstrafen zu verhängen.

Seit der Vorlage des Textes hatten Opposition und georgische Bürger:innen gewarnt, dass das Gesetz dazu genutzt würde, unabhängige Stimmen, die sich weigern, der offiziellen Linie der Regierung zu folgen, bloßzustellen, ins Visier zu nehmen und schließlich mundtot zu machen.

Viele NGOs, die in dem Land tätig sind, erhalten Spenden aus dem Westen, eine Entwicklung, die auf den Übergang der Sowjetrepublik zur Demokratie zurückgeht. Bekannte Gruppen wie Transparency International und Amnesty International würden als "ausländische Agenten" eingestuft werden.

Ministerpräsident Irakli Kobachidse argumentiert, das Gesetz schaffe "starke Garantien für langfristigen Frieden und Ruhe" und werde dazu beitragen, die politische Polarisierung zu überwinden. Kobachidse bringt umstrittenerweise aus dem Ausland finanzierte Nichtregierungsorganisationen mit revolutionären Bestrebungen zwischen 2020 und 2023 in Verbindung, was von Brüssel und Washington weitgehend abgelehnt wird.

Der Text wird immer wieder als "russisches Gesetz" bezeichnet, da er Ähnlichkeiten mit einem Gesetzentwurf aufweist, den der Kreml vor einem Jahrzehnt einführte, um kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen.

Nicht nur der Gesetzestext brachte der georgischen Regierung Kritik ein: Auch das harte Vorgehen gegen Demonstrierende, die massenhaft auf den Straßen gegen den Entwurf und für die Fortsetzung des EU-Aufnahmeprozesses protestierten, sorgte für Aufruhr.

Eine im vergangenen Jahr veröffentlichte Umfrage ergab, dass sich 89% der georgischen Bevölkerung für eine EU-Mitgliedschaft und 80% für einen NATO-Beitritt aussprechen. In der gleichen Umfrage nannten 87% der Befragten Russland als größte politische und wirtschaftliche Bedrohung.

"Die EU steht an der Seite des georgischen Volkes und seiner Entscheidung für die Demokratie und die europäische Zukunft Georgiens", erklärten Borrell und die EU-Kommission.

"Die Einschüchterungen, Drohungen und physischen Angriffe auf Vertreter der Zivilgesellschaft, politische Führer und Journalisten sowie deren Familien sind inakzeptabel. Wir fordern die georgischen Behörden auf, diese dokumentierten Handlungen zu untersuchen."

Vor der dritten Lesung hielt eine parteiübergreifende Gruppe von Abgeordneten in einem gemeinsamen Schreiben Borrell an, Sanktionen gegen Kobachidse und die Abgeordneten, die den Gesetzentwurf unterstützt haben, vorzubereiten. Die Abgeordneten forderten außerdem Várhelyi auf, zusätzliche Mittel für die georgische Zivilgesellschaft bereitzustellen und keine Beitrittsgespräche zu eröffnen, solange das umstrittene Gesetz in Kraft ist.

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